Doktor Pascal - 20
mußte die Therapie künstliche Reize schaffen, um die Spannkraft wiederherzustellen, die den Zustand vollkommener Gesundheit bedeutet. Und er träumte von einem ganz neuen Heilverfahren; Suggestion, die allmächtige Autorität des Arztes, für die Sinne; Elektrizität, Einreibungen, Massage für die Haut und die Sehnen; Diätkost für den Magen; Luftkuren im Gebirge für die Lungen; schließlich Transfusionen, Injektionen mit destilliertem Wasser für den Kreislauf. Die unleugbare, rein mechanische Wirkung der Injektionen hatte ihm den Weg gewiesen; aus einem Bedürfnis seines gern verallgemeinernden Geistes heraus weitete er diese Hypothese jetzt nur aus. Er sah die Welt von neuem gerettet in jenem vollkommenen Gleichgewicht, da ebensoviel Arbeit geleistet wird, wie Eindrücke empfangen werden; er sah den Gang der Welt in ihrer ewigen Mühe wiederhergestellt.
Dann lachte er freiheraus.
»Schön, da bin ich noch einmal in Fahrt gekommen! Und dabei glaube ich im Grunde, daß die einzige Weisheit darin besteht, nicht einzugreifen, sondern der Natur ihren Lauf zu lassen! Ach, ich unverbesserlicher alter Narr!«
Aber Ramond hatte in einer Aufwallung von Liebe und Bewunderung seine beiden Hände ergriffen.
»Meister, Meister! Mit solcher Leidenschaft und Narrheit wie der Ihren bringt man es zum Genie … Seien Sie unbesorgt, ich habe Ihnen zugehört, ich werde mich bemühen, Ihres Erbes würdig zu sein; und vielleicht, so glaube ich wie Sie, ist das große Morgen schon ganz darin beschlossen.«
In dem stillen, traulichen Zimmer begann Pascal mit der tapferen Ruhe eines sterbenden Philosophen, der seine letzte Vorlesung hält, wieder zu sprechen. Jetzt kam er auf seine persönlichen Beobachtungen zurück; er erklärte, daß er sich selber oft durch Arbeit geheilt habe, durch eine geregelte, methodische Arbeit ohne Überforderung. Es schlug elf Uhr, Ramond sollte erst einmal zu Mittag essen; und Pascal führte das Gespräch fort, in weiten, hohen Sphären, während Martine das Essen auftrug. Die Sonne war endlich durch die grauen Wolken des Vormittags gedrungen, eine noch halb verschleierte und sehr milde Sonne, deren goldener Schein den großen Raum leicht erwärmte. Dann schwieg Pascal und trank einige Schlucke Milch.
Der junge Arzt aß gerade eine Birne.
»Geht es Ihnen wieder schlechter?«
»Nein, nein, essen Sie nur zu Ende.«
Aber er konnte nicht lügen. Es war ein Anfall, ein schrecklicher Anfall. Die Atemnot kam blitzartig, warf ihn auf das Kissen zurück, während sein Gesicht schon blau wurde. Mit beiden Händen hatte er das Bettuch gepackt und klammerte sich krampfhaft daran fest, wie um einen stützenden Halt zu finden und die entsetzliche Masse emporzuheben, die ihm die Brust zermalmte. Niedergeschmettert, aschfahl starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf die Stutzuhr, mit einem erschreckenden Ausdruck von Verzweiflung und Schmerz. Zehn lange Minuten rang er mit dem Tode.
Ramond hatte ihm sofort Spritzen gegeben. Die Linderung trat nur langsam ein, die Wirkung war geringer.
Große Tränen traten Pascal in die Augen, als ihm das Leben zurückkehrte. Er sprach noch nicht, er weinte. Mit seinen verdunkelten Blicken schaute er noch immer auf die Stutzuhr und sagte:
»Mein Freund, um vier Uhr werde ich sterben, ich werde Clotilde nicht mehr sehen.«
Und als Ramond, um ihn abzulenken, entgegen dem Augenschein behauptete, daß das Ende noch nicht so nahe sei, packte ihn wieder die Leidenschaft des Wissenschaftlers, und er wollte seinem jungen Kollegen eine letzte Vorlesung halten, die sich auf die direkte Beobachtung stützte. Er hatte mehrere Fälle behandelt, die dem seinen ähnlich waren, und er erinnerte sich vor allem daran, daß er im Krankenhaus das sklerotische Herz eines armen alten Mannes seziert hatte.
»Ich sehe es, mein Herz … Es hat die Farbe eines abgestorbenen Blattes, seine Muskelfasern sind spröde, man könnte es als abgemagert bezeichnen, obwohl es ein wenig an Volumen zugenommen hat. Der Entzündungsprozeß hat es sicherlich verhärtet, so daß man es nur schwer sezieren könnte …«
Er sprach mit leiser Stimme weiter. Eben habe er ganz deutlich gespürt, wie sein Herz erschlaffte, wie seine Kontraktionen schlaff und langsam wurden. Statt des normalen Blutstrahls komme nur noch ein rotes Gerinnsel aus der Aorta. Dahinter seien die Adern mit schwarzem Blut verstopft, die Atemnot nehme zu, je langsamer die Saug und Druckpumpe wurde, die die ganze Maschine regulierte. Und nach
Weitere Kostenlose Bücher