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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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rufen. Und die beiden Männer blieben allein in freundschaftlichem vertrautem Gespräch; der eine lag mit seinem großen weißen Bart im Bett und redete wie ein Weiser, während der andere am Kopfende saß und ihm ehrerbietig wie ein Schüler zuhörte.
    »Wahrhaftig«, murmelte der Meister, als spräche er zu sich selbst, »die Wirkung dieser Spritzen ist erstaunlich …«
    Dann fuhr er lauter und beinahe fröhlich fort:
    »Mein lieber Ramond, es ist vielleicht kein großes Geschenk, das ich Ihnen da mache, aber ich werde Ihnen meine Manuskripte hinterlassen. Ja, Clotilde hat Weisung, sie Ihnen zu übergeben, wenn ich nicht mehr bin … Sie werden darin herumstöbern und vielleicht dieses oder jenes finden, was nicht gar so schlecht ist. Wenn Sie eines Tages irgendeinen guten Gedanken daraus entnehmen, dann um so besser für alle.«
    Und nun legte er sein wissenschaftliches Testament dar. Ihm war sehr wohl bewußt, daß er nur ein einsamer Pionier gewesen war, ein Wegbereiter, der Theorien aufstellte, der tastende Versuche in der Praxis unternahm und der auf Grund seiner noch barbarischen Methode gescheitert war. Er erinnerte daran, wie begeistert er gewesen war, als er glaubte, mit seinen Injektionen mit Nervensubstanz das Allheilmittel entdeckt zu haben; er erinnerte an seine Mißerfolge, an seine Verzweiflung, an den jähen Tod von Lafouasse, an die Schwindsucht, die Valentin trotz allem dahingerafft hatte, an Sarteur, bei dem der Wahnsinn wiedergekehrt war, der ihn schließlich erwürgte. Pascal schied voller Zweifel von hinnen, weil er nicht mehr den notwendigen Glauben an das Heilvermögen des Arztes hatte, doch so voller Liebe zum Leben, daß er schließlich in dieses Leben seinen einzigen Glauben setzte in der Gewißheit, daß es aus sich selber Gesundheit und Kraft schöpfen würde. Aber er wollte die Zukunft nicht ausschließen, er war im Gegenteil glücklich, seine Hypothese der Jugend zu vererben. Alle zwanzig Jahre änderten sich die Theorien, unerschütterlich blieben allein die erworbenen Wahrheiten, auf denen die Wissenschaft weiterbaute. Selbst wenn er nur das Verdienst hatte, die Hypothese eines Augenblicks beizutragen, so war seine Arbeit nicht umsonst gewesen, denn der Fortschritt lag ganz gewiß in der Bemühung, im ständig vorwärtsschreitenden Verstand. Und wer konnte es wissen? Mochte er auch erschöpft und müde sterben, ohne seine Hoffnung mit den Injektionen verwirklicht zu haben, so würden doch andere Arbeiter kommen, jung, glühend, überzeugt, die den Gedanken wiederaufnehmen, ihn erhellen und weiterführen würden. Und vielleicht nahm ein ganzes Zeitalter, eine ganze neue Welt davon ihren Ausgang.
    »Ach, mein lieber Ramond«, fuhr er fort, »könnte man doch ein zweites Leben leben! Ja, ich würde noch einmal von vorn beginnen, ich würde meinen Gedanken wieder aufnehmen, denn mich hat letzthin das sonderbare Ergebnis beeindruckt, daß die Injektionen mit reinem Wasser beinahe ebenso wirksam waren … Es kommt also gar nicht darauf an, welche Flüssigkeit man einspritzt, es ist lediglich ein mechanischer Vorgang … Den ganzen letzten Monat habe ich viel darüber geschrieben. Sie werden merkwürdige Aufzeichnungen und Beobachtungen finden … Alles in allem wäre ich dahin gekommen, einzig und allein an die Arbeit zu glauben, die Gesundheit im ausgewogenen Zusammenspiel aller Organe zu sehen – eine Art dynamischer Therapie, wenn ich dieses Wort wagen darf.«
    Er ereiferte sich allmählich, er vergaß darüber schließlich den nahen Tod und dachte nur noch an sein brennendes Verlangen, das Leben zu ergründen. Und er entwarf in großen Zügen seine letzte Theorie. Der Mensch war umgeben von der Natur, die durch Berührungen ständig die empfindlichen Nervenenden reizte. Dadurch wurden nicht nur die Sinne, sondern auch alle äußeren und inneren Oberflächen des Körpers aktiviert. Und diese Eindrücke, auf das Gehirn, auf das Knochenmark, auf die Nervenzentren übertragen, wurden dort in Spannkraft, in Bewegungen und Gedanken umgesetzt; und Pascal war der Überzeugung, daß das Wohlbefinden in dem normalen Ablauf dieser Arbeit bestand: Eindrücke empfangen, sie in Gedanken und Bewegungen umsetzen, die menschliche Maschine durch das regelmäßige Zusammenspiel der Organe in Gang halten. Auf diese Weise wurde die Arbeit zum großen Gesetz, zum ordnenden Prinzip des lebendigen Universums. Wenn das Gleichgewicht gestört war, wenn die von außen kommenden Reize nicht mehr genügten,

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