Doktor Pascal - 20
gewordener linker Arm hing wie Blei an seiner Schulter. Während er endlos auf die Hilfe wartete, die Martine herbeiholen sollte, hatte er schließlich alle seine Gedanken auf dieses Leiden gerichtet, das sein Fleisch aufschreien ließ. Und er ergab sich darein, er empfand nicht mehr die Empörung, die früher der bloße Anblick körperlichen Schmerzes in ihm hervorgerufen hatte. Der Schmerz hatte ihn aufgebracht, weil er ihm eine ungeheuerliche und sinnlose Grausamkeit zu sein schien. In all seinen Zweifeln, ob er zu heilen fähig sei, behandelte er seine Patienten nur noch, um den Schmerz zu bekämpfen. Wenn er ihn heute, da er selber schmerzgepeinigt war, schließlich hinnahm, dann deshalb, weil er in seinem Glauben an das Leben eine noch höhere Stufe erreicht hatte, jenen Gipfel der erhabenen Ruhe, von dem aus das Leben vollkommen gut erscheint, selbst mit der unvermeidlichen Bedingung des Leidens, die vielleicht seine Triebkraft ist. Ja, das ganze Leben leben, es ganz leben und ganz erleiden, ohne Auflehnung, ohne zu glauben, daß man es besser machen könnte, indem man es schmerzlos macht, das schien dem Sterbenden der große Mut und die große Weisheit zu sein. Und um sich das Warten zu verkürzen, um sich von seinem Schmerz abzulenken, nahm er seine letzten Theorien noch einmal auf, sann über das Mittel nach, das Leiden nutzbar zu machen, es in Tätigkeit, in Arbeit umzuwandeln. Je weiter der Mensch in der Zivilisation voranschreitet, um so mehr empfindet er den Schmerz, doch gleichzeitig wird er ganz sicher auch stärker, ist besser gewappnet, widerstandsfähiger. Das Organ, das funktionierende Hirn, entwickelt sich, kräftigt sich, sofern das Gleichgewicht zwischen den Eindrücken, die es empfängt, und der Arbeit, die es leistet, nicht gestört ist. Durfte man infolgedessen nicht von einer Menschheit träumen, bei der die Summe der Arbeit sich so völlig mit der Summe der Eindrücke deckte, daß das Leiden selber dabei genutzt und gleichsam aufgehoben wurde?
Jetzt ging die Sonne auf. Im Halbdämmer seiner Krankheit bewegte Pascal verwirrt diese fernen Hoffnungen, als er einen neuen Anfall tief in seiner Brust nahen fühlte. Gräßliche Angst befiel ihn: War das das Ende? Sollte er allein sterben? Doch im selben Augenblick kamen rasche Schritte die Treppe herauf, Ramond trat ins Zimmer, gefolgt von Martine. Und der Kranke konnte ihm vor dem Erstickungsanfall gerade noch sagen:
»Geben Sie mir eine Spritze, geben Sie mir sofort eine Spritze mit reinem Wasser! Am besten gleich zwei, mindestens zehn Gramm!«
Unglücklicherweise mußte der Arzt die kleine Spritze erst suchen und dann alles vorbereiten. Das dauerte einige Minuten, und der Anfall war schrecklich. Ramond verfolgte voller Angst sein Fortschreiten, sah, wie das Gesicht sich verzerrte und die Lippen blau wurden. Als er endlich die beiden Injektionen gemacht hatte, konnte er beobachten, wie die Krankheitserscheinungen nach einem kurzen Stillstand langsam an Intensität verloren. Diesmal war die Katastrophe noch vermieden worden.
Doch sowie Pascal keine Atemnot mehr litt, sagte er nach einem Blick auf die Stutzuhr mit schwacher, ruhiger Stimme:
»Mein Freund, es ist jetzt sieben Uhr … In zwölf Stunden, heute abend um sieben Uhr, werde ich tot sein.«
Und als der junge Mann widersprechen wollte, fuhr er fort:
»Nein, lügen Sie nicht. Sie waren bei dem Anfall dabei, und Sie wissen ebensogut Bescheid wie ich … Jetzt wird alles ganz mathematisch ablaufen, und ich könnte Ihnen die einzelnen Phasen der Krankheit Stunde um Stunde beschreiben …«
Er unterbrach sich, um mühsam Atem zu holen; dann fügte er hinzu:
»Außerdem ist es gut so, ich bin nur froh … Clotilde wird um fünf Uhr hier sein; mehr verlange ich nicht, als sie zu sehen und in ihren Armen zu sterben.«
Bald jedoch trat eine spürbare Besserung ein. Die Injektion wirkte wahrhaftig Wunder; im Rücken durch Kissen gestützt, konnte sich Pascal im Bett aufsetzen. Das Sprechen wurde ihm wieder leicht, und sein Verstand war klarer denn je.
»Wissen Sie, Meister«, sagte Ramond, »ich bleibe bei Ihnen. Ich habe meine Frau schon darauf vorbereitet, wir werden den Tag gemeinsam verbringen; und was Sie auch sagen mögen, ich hoffe doch, es wird nicht der letzte sein … Nicht wahr, Sie erlauben doch, daß ich mich hier häuslich niederlasse?«
Pascal lächelte. Er gab Martine den Auftrag, für Ramond das Mittagessen zu bereiten. Wenn man sie brauchen sollte, werde man sie schon
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