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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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der Injektion habe er trotz seines Schmerzes die progressive Belebung des Organs beobachtet, den Peitschenhieb, der es wieder in Gang setzte, indem er das schwarze Blut aus den Venen spülte und mit dem roten Blut der Arterien von neuem Kraft zuführte. Aber der Anfall werde wiederkommen, sobald die mechanische Wirkung der Injektion aufhörte. Er könne ihn fast auf die Minute genau voraussagen. Dank den Injektionen würden es noch drei Anfälle sein. Der dritte werde ihn hinwegraffen, um vier Uhr werde er sterben.
    Mit immer schwächer werdender Stimme sprach er ein letztes Mal voll Begeisterung von der Tapferkeit des Herzens, jenes unermüdlichen Arbeiters des Lebens, der unaufhörlich am Werke ist, in allen Sekunden des Daseins, selbst während des Schlafs, wenn alle anderen Organe faul sind und sich ausruhen.
    »Ach, wackeres Herz, wie kämpfst du heldenhaft! Ein nimmermüder Muskel, so zuverlässig und so großzügig! Du hast zu viel geliebt, du hast zu heftig geschlagen, und deshalb brichst du, wackeres Herz, das nicht sterben will und sich immer wieder aufrafft, um weiterzuschlagen!«
    Aber der erste angekündigte Anfall trat ein. Als er vorüber war, konnte Pascal nur noch keuchend Atem holen, er war verstört, sprach mühsam und mit pfeifender Stimme. Trotz seines Mutes entrangen sich ihm dumpfe Klagen: Mein Gott, wollte die Qual denn kein Ende nehmen? Und dennoch hatte er nur den einen glühenden Wunsch, seinen Todeskampf hinauszuzögern, noch so lange zu leben, daß er ein letztes Mal Clotilde umarmen konnte. Wenn er sich vielleicht doch täuschte, wie Ramond beharrlich wiederholte, wenn er vielleicht doch bis fünf Uhr leben könnte? Seine Blicke waren zur Stutzuhr zurückgekehrt, er ließ die Zeiger nicht mehr aus den Augen, und die Minuten dünkten ihn Ewigkeiten. Früher hatten sie oft über die EmpireUhr gescherzt, jene Schmucksäule aus vergoldeter Bronze mit ihrem Amor, der lächelnd die schlummernde Zeit betrachtet. Sie zeigte drei Uhr. Dann halb vier. Zwei Stunden Leben nur, noch zwei Stunden Leben, mein Gott! Die Sonne sank am Horizont, eine große Ruhe senkte sich vom bleichen Winterhimmel herab; und er hörte für Augenblicke die fernen Lokomotiven über die kahle Ebene pfeifen. Jener Zug dort fuhr nach Les Tulettes. Würde denn der andere, der aus Marseille, niemals ankommen?
    Zwanzig Minuten vor vier Uhr winkte Pascal Ramond zu sich heran. Er konnte nicht mehr laut sprechen, um sich verständlich zu machen.
    »Wenn ich bis sechs Uhr leben wollte, dürfte der Puls nicht so schwach sein. Ich hatte noch Hoffnung, aber es ist vorbei …«
    Und flüsternd nannte er Clotildes Namen. Es war ein gestammeltes, herzzerreißendes Lebewohl, der furchtbare Schmerz, den er empfand, weil er sie nicht mehr wiedersehen würde.
    Dann bewegte ihn noch einmal die Sorge um seine Manuskripte.
    »Verlassen Sie mich nicht … Der Schlüssel liegt unter meinem Kopfkissen. Sagen Sie Clotilde, daß sie ihn an sich nehmen soll, sie hat ihre Weisungen.«
    Eine erneute Injektion zehn Minuten vor vier blieb ohne Wirkung. Und es schlug gerade vier Uhr, als der zweite Anfall begann. Nachdem Pascal fast erstickt war, warf er sich plötzlich aus dem Bett und wollte in einem Wiedererwachen seiner Kräfte aufstehen und gehen. Ein Bedürfnis nach Weite, nach Licht, nach frischer Luft trieb ihn vorwärts, hinaus. Aus dem Nebenzimmer drang der unwiderstehliche Ruf des Lebens, seines ganzen Lebens, an sein Ohr. Und er strebte dorthin, wankend, keuchend, nach links gekrümmt, an den Möbeln sich festhaltend.
    Rasch war Doktor Ramond hinzugestürzt, um ihn zurückzuhalten.
    »Meister, Meister! Legen Sie sich wieder hin, ich flehe Sie an!«
    Pascal aber hörte nicht, er beharrte darauf, aufrecht zu sterben. Der leidenschaftliche Wille, noch zu leben, der heroische Gedanke an die Arbeit bestanden in ihm fort, rissen ihn wie eine Masse mit. Er röchelte, er stammelte.
    »Nein, nein … Dort drüben, dort drüben …«
    Sein Freund mußte ihn stützen, und stolpernd und verstört ging er in das große Arbeitszimmer und sank auf einen Stuhl vor dem Tisch, auf dem in dem bunten Durcheinander der Papiere und Bücher eine begonnene Seite lag.
    Dort saß er einen Augenblick schwer atmend, seine Lider schlossen sich. Bald hob er sie wieder, während seine tastenden Hände die Arbeit suchten. Sie fanden den Stammbaum mitten unter den anderen herumliegenden Aufzeichnungen. Noch zwei Tage zuvor hatte er einige Daten darin berichtigt. Und er

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