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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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erkannte ihn wieder, zog ihn zu sich heran und breitete ihn aus.
    »Meister, Meister! Sie bringen sich um!« wiederholte Ramond zitternd, von Mitleid und Bewunderung überwältigt.
    Pascal hörte nicht, begriff nicht. Er hatte einen Bleistift unter seinen Fingern ertastet, hielt ihn fest und beugte sich über den Stammbaum, als könnten seine halb erloschenen Augen nicht mehr sehen. Und ein letztes Mal ließ er die Mitglieder der Familie an sich vorüberziehen. Beim Namen Maxime hielt er inne und schrieb: »Stirbt 1873 an Ataxie«, in der Gewißheit, daß sein Neffe das Jahr nicht überleben werde. Dann stieß er daneben auf Clotildes Namen, und er vervollständigte auch diese Eintragung, er schrieb: »Hat 1874 von ihrem Onkel Pascal einen Sohn.« Aber nun suchte er, erschöpft auf dem Papier herumirrend, sich selbst. Als er sich endlich gefunden hatte, wurde seine Hand wieder sicher, er vervollständigte die ihn betreffende Eintragung mit großer, beherzter Schrift: »Stirbt am 7. November 1873 an einer Herzkrankheit.« Das war die letzte Anstrengung, er röchelte stärker und war dem Ersticken nahe, als er das leere Blatt über Clotildes Namen erblickte. Seine Finger vermochten den Bleistift nicht mehr zu halten. Trotzdem fügte er mit kraftlosen Buchstaben, aus denen die gequälte Liebe, die hoffnungslose Zerrüttung seines armen Herzens sprach, noch hinzu: »Das unbekannte Kind. Soll 1874 zur Welt kommen. Welcher Art wird es sein?« Dann hatte er einen Schwächeanfall; Martine und Ramond konnten ihn nur mit großer Mühe wieder auf das Bett tragen.
    Der dritte Anfall trat um Viertel fünf ein. Bei diesem letzten Erstickungsanfall war Pascals Gesicht von entsetzlicher Qual gezeichnet. Bis zum Ende mußte er sein Martyrium als Mensch und Wissenschaftler erdulden. Seine getrübten Augen schienen noch die Stutzuhr zu suchen, um die Zeit festzustellen. Und als Ramond sah, daß er die Lippen bewegte, neigte er sich über ihn und hielt das Ohr dicht an seinen Mund. Und wirklich flüsterte er Worte, so leise, daß sie nur noch wie ein Hauch waren:
    »Vier Uhr … Das Herz schläft ein, kein rotes Blut mehr in der Aorta … Der Herzmuskel erschlafft und steht still …«
    Ein furchtbares Röcheln schüttelte ihn, der leichte Hauch klang jetzt sehr fern.
    »Es geht zu schnell … Verlassen Sie mich nicht, der Schlüssel liegt unter dem Kopfkissen … Clotilde, Clotilde …«
    Am Fußende des Bettes war Martine, von Schluchzen erstickt, auf die Knie gesunken. Sie sah sehr wohl, daß der Herr Doktor starb. Sie hatte nicht gewagt, einen Priester zu holen, obgleich sie es sehr gern getan hätte; und sie sprach selber die Sterbegebete, sie bat den lieben Gott inbrünstig, er möge dem Herrn Doktor vergeben und den Herrn Doktor zu sich ins Paradies nehmen.
    Pascal starb. Sein Gesicht war ganz blau. Nach einigen Sekunden völliger Unbeweglichkeit rang er noch einmal nach Atem, schob die Lippen vor, öffnete seinen armen Mund wie ein kleiner Vogel, der ein letztes Mal nach Luft schnappt. Und das war ganz einfach der Tod.
     

Kapitel XIII
    Erst nach dem Mittagessen, gegen ein Uhr, erhielt Clotilde Pascals Depesche. Gerade an diesem Tage grollte ihr Bruder Maxime mit ihr; mit zunehmender Härte ließ er sie die Launen und Zornesausbrüche eines Kranken spüren. Alles in allem hatte sie wenig Glück bei ihm gehabt; er fand sie zu einfach, zu ernst, um ihn aufzuheitern, und jetzt schloß er sich mit der jungen Rose ein, der kleinen Blonden mit dem unschuldigen Gesicht, die ihm die Zeit vertrieb. Seitdem er durch die Krankheit ans Bett gefesselt und geschwächt war, ließ seine egoistische Vorsicht, wie sie Genußmenschen eigen ist, ließ sein lange gehegtes Mißtrauen gegen die männerfressenden Frauen nach. Und so hatte seine Schwester, als sie ihm sagen wollte, daß ihr Onkel sie zurückrufe und daß sie abreisen werde, einige Mühe, zu ihm zu gelangen, denn Rose war gerade dabei, ihn einzureiben. Maxime war sofort einverstanden; er bat sie zwar, so bald wie möglich zurückzukommen, wenn sie ihre Angelegenheiten in Plassans erledigt hätte, tat es jedoch ohne Nachdruck, einzig bestrebt, sich liebenswürdig zu zeigen.
    Clotilde verbrachte den Nachmittag mit Kofferpacken. In ihrer fieberhaften Erregung, trunken vor Glück über diese plötzliche Entscheidung, dachte sie nicht weiter nach, sondern überließ sich ganz der großen Freude über die Rückkehr. Aber als sie nach dem hastig eingenommenen Abendessen, nach dem Abschied von

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