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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ihrem Bruder und der endlosen Droschkenfahrt von der Avenue du BoisdeBoulogne zum Gare de Lyon um acht Uhr abgefahren war, im Damenabteil saß und der Zug in der regnerischen, kalten Novembernacht schon außerhalb von Paris dahinrollte, legte sich ihre Erregung; nach und nach kamen ihr Bedenken, und sie empfand schließlich eine dumpfe Unruhe. Warum wohl schickte Pascal unvermittelt eine so kurze Depesche? »Ich erwarte Dich, reise noch heute abend.« Zweifellos war dies die Antwort auf den Brief, in dem sie ihm ihre Schwangerschaft mitgeteilt hatte. Allein sie wußte, wie sehr er wünschte, daß sie in Paris blieb, wo sie seiner Vorstellung nach glücklich war, und sie wunderte sich jetzt über die Eile, mit der er sie zurückrief. Sie hatte keine Depesche erwartet, sondern einen Brief; sie hätte dann ihre Vorbereitungen getroffen und wäre einige Wochen später zurückgekehrt. Gab es vielleicht einen anderen Grund, eine Unpäßlichkeit, das Verlangen, das Bedürfnis, sie unverzüglich wiederzusehen? Und von nun an setzte sich diese Angst mit der Macht einer Vorahnung in ihr fest, wuchs und erfüllte sie bald ganz und gar.
    Die ganze Nacht hindurch peitschte ein sintflutartiger Regen gegen die Fensterscheiben des Zuges, während er durch die Ebenen der Bourgogne dahinfuhr. Diese Sintflut hörte erst bei Mâcon auf. Hinter Lyon wurde es Tag. Clotilde hatte Pascals Briefe bei sich, und sie wartete mit Ungeduld auf den Anbruch des Tages, um diese Briefe, deren Schrift ihr verändert vorkam, noch einmal lesen und sich genau ansehen zu können. Und sie spürte eine leise Kälte im Herzen, als sie die Unsicherheit feststellte, die Brüchigkeit in den Schriftzügen. Er war krank, sehr krank: das wurde ihr jetzt zur Gewißheit, drängte sich ihr mit wahrhaft hellseherischer Klarheit auf, wobei weniger Überlegung als ahnungsvolles Vorherwissen im Spiele war. Und der restliche Teil der Reise wurde ihr entsetzlich lang, denn sie fühlte, wie ihre Angst wuchs, je mehr sie sich dem Ziel näherte. Das schlimmste war, daß sie schon um halb eins in Marseille ankam und erst zwanzig Minuten nach drei Uhr einen Zug nach Plassans nehmen konnte. Drei lange Stunden des Wartens. Sie aß im Bahnhofsrestaurant zu Mittag, aß in fieberhafter Eile, als fürchtete sie, den Zug zu versäumen; dann ging sie in dem staubigen Bahnhofsgarten spazieren, ging mitten im Gedränge der Omnibusse und der Droschken in der noch warmen, bleichen Sonne von einer Bank zur anderen. Endlich konnte sie weiterfahren; alle Viertelstunden hielt der Zug an den kleinen Stationen. Sie sah aus dem Fenster, und es schien ihr, als wäre sie länger als zwanzig Jahre fort gewesen und als hätten die Ortschaften sich verändert. Wie der Zug SainteMarthe verließ, erblickte sie beim Hinausschauen mit starker innerer Bewegung in sehr weiter Ferne am Horizont die Souleiade mit den beiden hundertjährigen Zypressen auf der Terrasse, die drei Meilen weit zu sehen waren.
    Es war fünf Uhr, die Abenddämmerung sank schon herab. Die Bremsen kreischten, und Clotilde stieg aus. Sie empfand stechenden Schmerz, als sie sah, daß Pascal nicht auf dem Bahnsteig war, um sie abzuholen. Von Lyon an hatte sie sich immer wieder gesagt: Wenn ich ihn nicht gleich bei der Ankunft sehe, dann ist er krank. Doch vielleicht war er im Wartesaal oder kümmerte sich draußen um einen Wagen. Sie rannte los und fand nur Vater Durieu, den Droschkenkutscher, bei dem sich der Doktor für gewöhnlich einen Wagen mietete. Ungeduldig fragte sie ihn aus. Der alte Mann, ein schweigsamer Provençale, beeilte sich nicht mit der Antwort. Er hatte sein Wägelchen da und fragte nach dem Gepäckschein, da er sich zunächst um die Koffer kümmern wollte. Mit zitternder Stimme wiederholte Clotilde ihre Frage:
    »Sind alle gesund, Vater Durieu?«
    »Aber ja doch, Mademoiselle.«
    Und sie mußte hartnäckig weiterfragen, ehe sie erfuhr, daß Martine ihm tags zuvor um sechs Uhr aufgetragen hatte, zur Ankunftszeit des Zuges mit seinem Wagen am Bahnhof zu sein. Er selber habe den Doktor seit zwei Monaten nicht mehr gesehen, niemand habe ihn gesehen. Da er nicht am Bahnhof sei, habe er sich vielleicht ins Bett legen müssen, denn in der Stadt erzähle man sich, daß sein Gesundheitszustand zu wünschen übriglasse.
    »Warten Sie, bis ich das Gepäck geholt habe, Mademoiselle. Auf der Bank ist Platz für Sie.«
    »Nein, Vater Durieu, das würde zu lange dauern. Ich gehe zu Fuß.«
    Mit großen Schritten stieg sie die

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