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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ihn ja, dieses bedauernswerte Mädchen, sie hatte ihn immer geliebt! Er rief sich die dreißig Jahre blinder Ergebenheit ins Gedächtnis, ihre stumme Anbetung von früher, als sie jung war und ihm auf Knien diente; später dann ihre heimliche Eifersucht auf Clotilde und alles, was sie wohl in jener Zeit unbewußt gelitten hatte. Und da lag sie auch heute wieder auf den Knien, an seinem Sterbelager, grauhaarig, mit ihren aschfarbenen Augen in dem bleichen, durch die Ehelosigkeit stumpf gewordenen Nonnengesicht. Und er spürte, daß sie gänzlich unwissend war und nicht einmal wußte, mit welcher Liebe sie ihn liebte, denn sie hatte nur ihn geliebt um des Glückes willen, ihn zu lieben, bei ihm zu sein und ihm zu dienen.
    Tränen rannen Pascal über die Wangen. Sein armes, halb gebrochenes Herz floß über von schmerzlichem Erbarmen, von unendlicher menschlicher Liebe. Er duzte sie.
    »Meine arme Gute, du bist das beste aller Mädchen … Komm, küsse mich so, wie du mich liebhast, mit all deiner Kraft!«
    Auch sie schluchzte. Sie ließ ihr graues Haupt, das in langem Dienen mager und faltig gewordene Gesicht auf die Brust ihres Herrn sinken. Ganz außer sich, küßte sie ihn und legte ihr ganzes Leben in diesen Kuß.
    »Gut! Laß uns jetzt nicht weich werden, denn siehst du, was wir auch tun mögen, es wird trotzdem das Ende sein … Wenn du willst, daß ich dich liebhabe, gehorchst du mir.«
    Zunächst bestand er darauf, nicht in seinem Zimmer zu bleiben. Es schien ihm eiskalt, hoch, öde und dunkel. In ihm war der Wunsch erwacht, in dem anderen Zimmer zu sterben, in Clotildes Zimmer, in dem sie sich geliebt hatten und das er nur noch mit einem frommen Schauer betrat. Und Martine mußte höchste Selbstverleugnung aufbringen, mußte ihm beim Aufstehen helfen, ihn stützen und den Schwankenden zu dem noch warmen Bett führen. Er hatte den Schlüssel zum Schrank unter dem Kopfkissen hervorgenommen, wo er ihn jede Nacht aufbewahrte; und er legte diesen Schlüssel unter das andere Kopfkissen, um ihn zu bewachen, solange er noch am Leben war. Der Morgen dämmerte kaum herauf, Martine hatte die Kerze auf den Tisch gestellt.
    »Jetzt, wo ich hier liege und auch etwas besser atmen kann, tust du mir den Gefallen und läufst zu Doktor Ramond … Du weckst ihn und bringst ihn gleich mit hierher.«
    Sie lief schon los, als ihn plötzlich eine Angst überkam.
    »Und vor allem verbiete ich dir, meine Mutter zu benachrichtigen.«
    Verwirrt kam sie zu ihm zurück und sagte flehend:
    »Oh, Herr Doktor, wo ich doch Madame Félicité so oft versprechen mußte …«
    Aber er war unbeugsam. Sein ganzes Leben lang war er ehrerbietig gegenüber seiner Mutter gewesen, und er glaubte das Recht zu haben, sich im Augenblick seines Todes vor ihr zu schützen. Er weigerte sich, sie zu sehen. Das Dienstmädchen mußte ihm schwören, Schweigen zu bewahren. Da erst fand er ein Lächeln wieder.
    »Geh schnell … Oh, du wirst mich schon wiedersehen, diesmal ist es noch nicht soweit.«
    Endlich brach der Tag an, eine trübe Dämmerung an einem bleichen Novembermorgen. Pascal hatte die Fensterläden öffnen lassen, und als er allein war, sah er, wie es draußen immer heller wurde, das Licht des zweifellos letzten Tages, den er zu leben hatte. Am Abend zuvor hatte es geregnet, die wärmende Sonne
    war verschleiert geblieben. Von den nahen Platanen vernahm er das Zwitschern der erwachenden Vögel, während in weiter Ferne, in der Tiefe des schlummernden Landes, mit anhaltendem Klagelaut eine Lokomotive pfiff. Und er war allein, allein in dem großen trübseligen Haus, dessen Leere er um sich fühlte, dessen Stille er lauschte. Der Tag zog langsam herauf, und Pascal beobachtete noch immer, wie der Lichtfleck sich auf den Fensterscheiben ausdehnte und heller wurde. Dann ging die Flamme der Kerze im Tageslicht unter, das ganze Zimmer tauchte aus dem Dunkel. Er erhoffte sich davon Erleichterung, und er wurde nicht enttäuscht; die Wandbespannung im Farbton der Morgenröte, die vertrauten Möbel und das breite Bett, in dem er Clotilde geliebt und in das er sich zum Sterben niedergelegt hatte, spendeten ihm Trost. Unter der hohen Zimmerdecke schwebte noch immer ein reiner Duft von Jugend durch den erschauernden Raum, unendliche Liebeswonne, die ihn wie eine treue Liebkosung einhüllte und stärkte.
    Indessen litt Pascal furchtbar, obgleich der akute Anfall vorüber war. Ein stechender Schmerz war in der Herzgrube zurückgeblieben, und sein empfindungslos

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