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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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doch! Da muß sich das Fräulein schon was vorgemacht haben, um nicht zu sehen, wie es um ihn stand … In der Nacht vor der Abreise fand ich den Herrn Doktor halb erstickt, so groß war sein Kummer; und als ich es dem Fräulein sagen wollte, hat er mich daran gehindert … Ich habe genau gesehen, wie es um ihn stand, seitdem das Fräulein nicht mehr da war. Jede Nacht ging es wieder los, er mußte mit Gewalt an sich halten, um nicht zu schreiben und Sie zurückzurufen … Und daran ist er auch gestorben, das ist die reine Wahrheit.«
    Clotilde sah plötzlich alles klar, und sie war sehr glücklich und zugleich schmerzlich bewegt. Mein Gott, was sie einen Augenblick geahnt hatte, war also wahr? Angesichts der unbeirrbaren Hartnäckigkeit Pascals hatte sie später schließlich glauben müssen, daß es keine Lüge sei, daß er, vor die Wahl gestellt, sich für sie oder für die Arbeit zu entscheiden, aufrichtig die Arbeit wählte als Mann der Wissenschaft, bei dem die Liebe zum Werk den Sieg über die Liebe zum Weib davonträgt. Und dennoch hatte er gelogen und die Selbstverleugnung so weit getrieben, daß er sich aufopferte für ihr vermeintliches Glück. Und die traurigen Umstände wollten, daß er sich täuschte und auf diese Weise sie alle unglücklich machte.
    Von neuem widersprach Clotilde voller Verzweiflung.
    »Aber wie hätte ich das wissen sollen? Ich war gehorsam, ich habe meine ganze Liebe in meinen Gehorsam gelegt.«
    »Ach«, rief Martine abermals, »ich hätte es bestimmt geahnt!«
    Jetzt legte sich Ramond ins Mittel und sprach leise auf sie ein. Er nahm wieder die Hände seiner Freundin und erklärte ihr, daß der Kummer das verhängnisvolle Ende zwar habe beschleunigen können, daß aber der Meister unglücklicherweise schon seit längerer Zeit dem Tode geweiht gewesen sei. Die Herzkrankheit, an der er litt, müsse schon lang zurückliegende Ursachen haben: große Überanstrengung, zu einem gewissen Teil Vererbung und schließlich die ganze letzte Leidenschaft; so sei das arme Herz denn gebrochen.
    »Gehen wir hinauf«, sagte Clotilde. »Ich will ihn sehen.«
    Oben im Zimmer hatte man die Fensterläden geschlossen, die schwermütige Abenddämmerung vermochte nicht einzudringen. Am Fuß des Bettes brannten auf einem kleinen Tisch zwei Kerzen. Und ihr matter gelber Schein fiel auf Pascal, der mit geschlossenen Beinen ausgestreckt dalag, die Hände über der Brust gefaltet. Ehrfurchtsvoll hatte man ihm die Augenlider zugedrückt. Das Gesicht schien zu schlafen, noch bläulich zwar, doch schon mit friedlichem Ausdruck, umrahmt von der Flut des weißen Haars und des weißen Bartes. Er war kaum anderthalb Stunden tot. Der unendliche Friede begann, die ewige Ruhe.
    Als Clotilde ihn so wiedersah und sich sagen mußte, daß er sie nicht mehr hörte, daß er sie nicht mehr sah, daß sie nunmehr allein war, daß sie ihn ein letztes Mal küssen und ihn dann für immer verlieren würde, brach der Schmerz aus ihr hervor, sie warf sich über das Bett und vermochte nichts anderes zu stammeln als die zärtlichen Worte: »O Meister, Meister, Meister …«
    Sie hatte die Lippen auf die Stirn des Toten gedrückt, und da sie noch einen Rest von Lebenswärme in ihm spürte, konnte sie sich einen Augenblick der Illusion hingeben, daß er diese letzte Liebkosung, auf die er so lange gewartet hatte, noch empfand. Hatte er nicht in seiner Reglosigkeit gelächelt, glücklich, daß er nun endlich sterben konnte, jetzt, da er sie beide bei sich wußte, Clotilde und das Kind, das sie unter dem Herzen trug? Dann brach sie angesichts der schrecklichen Wirklichkeit zusammen und begann von neuem fassungslos zu schluchzen.
    Martine kam mit einer Lampe herein, die sie abseits auf eine Ecke des Kamins stellte. Ramond beobachtete Clotilde voll Besorgnis, weil er sie in ihrem Zustand so tief erschüttert sah, und Martine hörte ihn sagen:
    »Ich nehme Sie mit, wenn es Ihnen an Mut gebricht. Denken Sie daran, daß Sie nicht allein sind, denken Sie an das liebe kleine Wesen, von dem er mir schon mit so großer Freude und Zärtlichkeit gesprochen hat.«
    Im Verlauf des Tages hatte sich Martine über manche Sätze gewundert, die sie zufällig aufschnappen konnte. Plötzlich wurde ihr alles klar; und als sie schon aus dem Zimmer gehen wollte, blieb sie stehen und hörte weiter zu.
    Ramond hatte die Stimme gesenkt.
    »Der Schlüssel zum Schrank liegt unter dem Kopfkissen; er hat mir wiederholt aufgetragen, es Ihnen zu sagen … Sie wissen, was

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