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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Anhöhe hinauf. Ihr Herz krampfte sich zusammen, daß sie fast erstickte. Die Sonne war hinter den Hügeln von Sainte Marthe verschwunden, feiner Dunst senkte sich mit der ersten Novemberkühle vom grauen Himmel herab; und als sie den Weg nach Les Fenouillères einschlug, tauchte von neuem die Souleiade vor ihr auf, und sie erstarrte beim Anblick der düsteren Fassade, die mit den geschlossenen Fensterläden ein Bild trostloser Verlassenheit und Trauer bot.
    Der schreckliche Schlag traf Clotilde, als sie auf der Schwelle zum Hausflur Ramond stehen sah, der sie zu erwarten schien. Er hatte sie tatsächlich abgepaßt, er war heruntergekommen, um ihr das furchtbare Unglück schonend beizubringen. Außer Atem kam sie an; sie war an der Platanengruppe nahe der Quelle vorbeigegangen, um den Weg möglichst abzukürzen; und als sie dort den jungen Mann stehen sah anstelle Pascals, den sie noch immer dort zu finden hoffte, fühlte sie alles zusammenstürzen, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück mußte geschehen sein. Ramond sah sehr blaß und verstört aus, trotz seines Bemühens, gefaßt zu erscheinen. Er sprach kein Wort, sondern wartete, daß sie ihn fragte. Clotilde glaubte ersticken zu müssen und brachte kein Wort hervor. Und so gingen sie ins Haus, Ramond führte sie ins Eßzimmer, wo sie einander in dieser beklemmenden Angst wieder sekundenlang stumm gegenüberstanden.
    »Er ist krank, nicht wahr?« stammelte sie endlich.
    Er wiederholte nur:
    »Ja, krank.«
    »Ich habe es gleich gewußt, als ich Sie sah«, begann sie wieder. »Er muß ja krank sein, sonst wäre er hier.«
    Dann drang sie in ihn.
    »Er ist krank, sehr krank, nicht wahr?«
    Ramond antwortete nicht mehr, er wurde noch bleicher, und Clotilde ließ ihn nicht aus den Augen. In diesem Moment sah sie ihm an, daß der Tod Einzug gehalten hatte; sie sah es an seinen noch zitternden Händen, die den Sterbenden gepflegt hatten, an seinem verzweifelten Gesicht, an seinen verstörten Augen, in denen sich noch der Todeskampf spiegelte, an der ganzen Unruhe des Arztes, der zwölf Stunden lang einen ohnmächtigen Kampf geführt hatte.
    Sie stieß einen lauten Schrei aus.
    »Er ist also tot!«
    Wie vom Blitz getroffen, wankte sie und stürzte Ramond in die Arme, der sie mit einem Aufschluchzen brüderlich umfing. Beide weinten.
    Und als er sie zu einem Stuhl geführt hatte und wieder zu sprechen vermochte, sagte Ramond:
    »Ich war es, der gestern gegen halb elf die Depesche an Sie aufgegeben hat. Er war so glücklich, so voller Hoffnung! Er erging sich in Zukunftsträumen, noch ein Jahr, noch zwei Jahre Leben … Doch heute früh um vier Uhr hatte er den ersten Anfall und ließ mich holen. Er wußte sofort, daß er verloren war. Aber er hoffte, er würde noch bis sechs Uhr durchhalten, lange genug, um Sie wiederzusehen … Das Leiden hat ihn schnell dahingerafft. Er hat mir seinen Verlauf bis zum letzten Atemzug, Minute für Minute, genau erklärt, wie ein Professor, der im Anatomiesaal seziert. Mit Ihrem Namen auf den Lippen ist er gestorben, ruhig und verzweifelt, wie ein Held.«
    Clotilde hätte laufen, mit einem Satz in das Zimmer hinaufeilen wollen, doch sie blieb wie angewurzelt sitzen, ohne die Kraft, sich von ihrem Stuhl zu erheben. Sie hatte zugehört, die Augen voll dicker Tränen, die unaufhörlich über ihre Wangen liefen. Jeder der Sätze, der ganze Bericht von diesem stoischen Tod hallte in ihrem Herzen wider und prägte sich dort tief ein. Sie ließ den entsetzlichen Tag noch einmal vor sich erstehen. Sie würde ihn zeitlebens immer wieder durchleben müssen.
    Ihre Verzweiflung überstieg jedes Maß, als Martine, die vor einer Weile hereingekommen war, mit harter Stimme sagte:
    »Ach! Das Fräulein hat auch allen Grund zu weinen, denn nur ihretwegen ist der Herr Doktor gestorben.«
    Die alte Magd stand abseits an der Tür zu ihrer Küche, leidend und außer sich, daß man ihr den Herrn genommen und getötet hatte; und sie suchte nicht einmal nach einem Wort des Willkommens und des Trostes für dieses Kind, das unter ihrer Obhut aufgewachsen war. Ohne die Tragweite ihrer Taktlosigkeit zu bedenken, den Schmerz oder die Freude, die sie dadurch auslösen konnte, erleichterte sie ihr Herz und sagte alles, was sie wußte.
    »Ja, der Herr Doktor ist nur gestorben, weil das Fräulein fortgegangen ist.«
    In ihrer tiefen Verzweiflung widersprach Clotilde.
    »Aber er war es doch, der böse geworden ist, er hat mich doch zum Fortgehen gezwungen!«
    »Ach ja

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