Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
die Summe dieser ständig vermehrten Wahrheiten dem Menschen eines Tages eine noch nicht abzuschätzende Macht und die Heiterkeit der Seele geben werde, wenn nicht das Glück. Das alles fand seinen höchsten Ausdruck in dem glühenden Glauben an das Leben. Man mußte, wie er sagte, mit dem Leben vorwärtsschreiten, das immer vorwärtsschreitet. Man durfte auf kein Verweilen hoffen, auf keinen Frieden beim Beharren in der Unwissenheit, auf keine Erleichterung bei der Rückkehr ins Vergangene. Man mußte einen starken Charakter haben, die Bescheidenheit, sich zu sagen, daß der einzige Lohn des Lebens darin besteht, es tapfer gelebt zu haben, indem man die Aufgabe erfüllte, die es einem stellt. Dann war das Übel nur mehr eine Nebensache, für die es noch keine Erklärung gab; die Menschheit erschien, aus großer Höhe gesehen, wie ein ungeheurer, funktionierender Mechanismus, der am ständigen Werden arbeitete. Weshalb sollte der Arbeiter, der nach vollbrachtem Tagewerk verschwand, das Werk verfluchen, weil er dessen Ende weder zu sehen noch zu beurteilen vermochte? Selbst wenn es niemals ein Ende haben sollte, warum nicht die Freude des Tätigseins genießen, die scharfe Luft des Marsches, die Süße des Schlummers nach langer Mühsal? Die Kinder werden die Bemühung der Väter fortsetzen, nur dazu werden sie geboren und nur deshalb liebt man sie, um dieser Lebensaufgabe willen, die man an sie weiterreicht und die auch sie weiterreichen werden. Und von diesem Augenblick an gab es nur noch die tapfere Ergebung in die große gemeinsame Mühe, ohne die Auflehnung des Ichs, das ein eigenes, absolutes Glück verlangt.
    Sie befragte sich, sie empfand nicht die Verzweiflung, die sie früher geängstigt hatte, wenn sie an die Zukunft nach dem Tode dachte. Der Gedanke an das Jenseits verfolgte sie nicht mehr so quälend. Früher hätte sie dem Himmel das Geheimnis des Schicksals mit Gewalt entreißen mögen. Es erfüllte sie mit unendlicher Traurigkeit, daß sie lebte, ohne zu wissen, warum sie lebte. Wozu kam man auf die Welt? Was war der Sinn dieses abscheulichen Daseins ohne Gleichheit und Gerechtigkeit, dieses Alptraums einer Wahnsinnsnacht? Doch sie erschauerte nicht mehr bei diesen Fragen, sie konnte jetzt mutig an diese Dinge denken. Vielleicht war es das Kind, diese Fortsetzung ihrer selbst, das ihr jetzt den Schrecken ihres Endes verbarg. Aber viel trug auch das Gleichgewicht dazu bei, in dem sie lebte, der Gedanke, daß man leben mußte um der Mühe des Lebens willen und daß der einzig mögliche Friede auf dieser Welt in der Freude über diese vollbrachte Mühe lag. Sie wiederholte sich einen Ausspruch Pascals, der, wenn er einen Bauern nach getanem Tagewerk mit zufriedener Miene heimkehren sah, oft sagte: »Das ist einer, den der Streit um das Jenseits nicht um den Schlaf bringen wird.« Er meinte damit, daß dieser Streit sich nur in das erhitzte Hirn der Müßiggänger verirrt und dort zum Übel ausschlägt. Würden alle ihre Arbeit tun, könnten auch alle ruhig schlafen. Sie selber hatte in ihrem Leid und ihrer Trauer diese wohltätige Allmacht der Arbeit gespürt. Seit Pascal sie gelehrt hatte, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen, vor allem seit sie Mutter und unaufhörlich mit ihrem Kind beschäftigt war, spürte sie nicht mehr, wie ihr der Schauer des Unbekannten mit leichtem, eiskaltem Hauch über den Nacken strich. Sie schob die beunruhigenden Träumereien ohne Kampf beiseite; und wenn dennoch Furcht sie verwirrte, wenn eine der alltäglichen Bitternisse sie mit Ekel erfüllte, fand sie Trost und unbesiegbare Widerstandskraft in dem Gedanken, daß ihr Kind an diesem Tag wieder einen Tag älter war, daß es am nächsten Tag noch einen Tag älter sein würde, daß sich ihr lebendiges Werk Tag für Tag, Seite um Seite vollendete. Das beruhigte sie auf wunderbare Weise in allen Nöten. Sie hatte eine Aufgabe, ein Ziel, und sie spürte es deutlich an ihrem glücklichen Seelenfrieden: sie tat ganz gewiß das, wozu sie auf die Welt gekommen war.
    Indessen begriff sie in ebendieser Minute, daß das Chimärische in ihr nicht ganz tot war. Ein leises Geräusch war durch die tiefe Stille geflogen, und sie hatte aufgeblickt: wer war der göttliche Mittler, der da vorüberzog? Vielleicht der teure Tote, den sie beweinte und den sie in ihrer Nähe zu ahnen glaubte. Sie sollte immer ein wenig das gläubige Kind von einst bleiben, neugierig auf das Mysterium, mit dem instinktiven Verlangen nach dem Unbekannten. Sie hatte diesem

Weitere Kostenlose Bücher