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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sich ihm vor dem versammelten Volk, im hellen Licht des Tages, geschenkt hatte.
    Leise setzte sich Clotilde neben die Wiege. Die Sonnenpfeile drangen bis ans äußerste Ende des Zimmers, die Hitze des glühenden Tages wurde drückend im schläfrigen Dämmer der geschlossenen Fensterläden, und die Stille des Hauses schien noch tiefer geworden zu sein. Clotilde hatte kleine Leibchen aussortiert, an die sie mit langsamen Stichen wieder Bänder annähte. In dem tiefen warmen Frieden, der sie bei der draußen herrschenden Sonnenglut einhüllte, versank sie nach und nach in träumerisches Sinnen. Ihre Gedanken kehrten zunächst wieder zu ihren Pastellmalereien zurück, den naturgetreuen und den phantastischen, und sie sagte sich jetzt, daß ihre ganze Doppelnatur einmal in jener leidenschaftlichen Wahrheitsliebe beschlossen liege, die sie zuweilen für ganze Stunden vor einer Blüte verharren ließ, um diese mit äußerster Genauigkeit nachzuzeichnen, zum andern in ihrem Verlangen nach dem Jenseits, das sie dann wieder aus der Wirklichkeit herausriß und sie in tollen Träumen in das Paradies der unerschaffenen Blüten forttrug. Sie war immer so gewesen, sie fühlte, daß sie in dem neuen Lebensstrom, der sie unaufhörlich verwandelte, im Grunde auch heute noch dieselbe war wie gestern. Dann dachte sie an die tiefe Dankbarkeit, die sie Pascal bewahrte, weil er sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Einst, als er sie als ganz kleines Mädchen einem abscheulichen Milieu entrissen und zu sich genommen hatte, war er sicher seinem guten Herzen gefolgt, aber zweifellos war es auch sein Wunsch, mit ihr den Versuch zu machen, wie sie wohl in einem anderen, ganz aus Wahrheit und Liebe bestehenden Milieu heranwachsen würde. Das war ein ihn ständig beschäftigendes Anliegen, eine alte Theorie, die er gern im großen ausprobiert hätte: Kultur durch den Einfluß des Milieus, ja sogar Heilung, Besserung und Rettung des Menschen an Leib und Seele. Sie verdankte ihm gewiß das Beste ihres Wesens, sie ahnte, wie verstiegen und wie heftig sie hätte werden können, während er ihr nur Leidenschaft und Mut vermittelt hatte. In diesem Blühen unter der Sonne hatte das Leben sie einander in die Arme getrieben, und war das Kind nicht gleichsam die letzte Äußerung der Güte und der Freude, das Kind, das gekommen war und sie beide beglückt hätte, wären sie nicht durch den Tod getrennt worden?
    Bei diesem Rückblick in die Vergangenheit empfand sie deutlich, welch langwieriges Werk sich in ihr vollzogen hatte. Pascal hatte ihre erbliche Veranlagung verbessert, und sie durchlebte noch einmal die langsame Entwicklung, den Kampf zwischen der wirklichkeitsnahen und der verstiegenen Clotilde. Das nahm seinen Anfang bei ihren kindlichen Wutanfällen, einem Gärstoff der Empörung, einer inneren Unausgeglichenheit, die sie in die schlimmsten Hirngespinste stürzte. Dann kamen ihre heftigen Anfälle von Frömmigkeit, ihr Bedürfnis nach Illusion und Lüge, nach unmittelbarem Glück, wenn sie daran dachte, daß die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten dieser schlechten Welt durch die ewigen Freuden eines zukünftigen Paradieses ausgeglichen werden sollten. Das war die Zeit ihrer Kämpfe mit Pascal, der Quälereien, mit denen sie ihn gepeinigt hatte, da sie darauf sann, seinen Geist zu töten. Und an dieser Wegbiegung kehrte sie um, fand sie ihn als ihren Herrn und Meister wieder, der sie durch die schreckliche Lektion über das Leben, die er ihr in der Gewitternacht gab, eroberte. Seitdem war das Milieu wirksam geworden, war die Entwicklung rascher vorangegangen: Clotilde war schließlich ausgeglichen und vernünftig geworden, bereit, das Leben so zu leben, wie es gelebt werden mußte, in der Hoffnung, daß die Summe der menschlichen Arbeit eines Tages die Welt vom Übel und vom Schmerz befreien würde. Sie hatte geliebt, sie war Mutter, und sie begriff.
    Plötzlich erinnerte sie sich jener anderen Nacht, die sie auf der Tenne zugebracht hatte. Sie hörte noch ihre Klage unter den Sternen: wie grausam die Natur sei, wie abscheulich die Menschheit, wie die Wissenschaft Bankrott mache und wie notwendig es daher sei, sich in Gott, in das Mysterium zu verlieren. Außerhalb der tiefsten Demütigung vor Gott gebe es kein dauerhaftes Glück. Dann hörte sie ihn sein Glaubensbekenntnis wiederholen: vom Fortschritt der Vernunft durch die Wissenschaft, von der einzig möglichen Wohltat der langsam und für allezeit erworbenen Wahrheiten, vom Glauben, daß

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