Doktor Pascal - 20
wehte über den fleckenlos blauen, wunderbaren Himmel. Zur Linken erkannte man selbst die kleinsten Kiefernbüschel zwischen den blutigen Felsentrümmern der Seille, während sich nach rechts hin, hinter den Hängen von SainteMarthe, das Tal der Viorne im Goldgeflimmer der sinkenden Sonne unendlich weit dahinzog. Sie betrachtete einen Augenblick den Turm von SaintSaturnin, der, ebenfalls in Gold getaucht, die rosig schimmernde Stadt beherrschte; und als sie sich gerade abwenden wollte, zog ein Schauspiel sie ans Fenster zurück, wo sie noch lange mit aufgestützten Ellbogen stehenblieb.
Jenseits der Eisenbahnlinie drängte sich eine Menschenmenge auf dem ehemaligen Jeu de Mail, Clotilde erinnerte sich sogleich an die Feierlichkeit, und sie begriff, daß ihre Großmutter Félicité wohl gerade den Grundstein zum Altersheim Rougon legte, dem sieghaften Bauwerk, das künftigen Geschlechtern den Ruhm der Familie verkünden sollte. Gewaltige Vorbereitungen waren seit acht Tagen getroffen worden, man sprach von einem silbernen Mörtelkasten und einer ebenfalls silbernen Maurerkelle, deren die alte Dame sich in höchsteigener Person bedienen sollte, da sie mit ihren zweiundachtzig Jahren unbedingt dabeisein und ihren Triumph feiern wollte. Es erfüllte sie mit königlichem Stolz, daß sie bei dieser Gelegenheit Plassans zum drittenmal eroberte, denn sie zwang die ganze Stadt, alle drei Stadtteile, sich um sie zu scharen, ihr gleich einer Wohltäterin das Geleit zu geben und ihr zuzujubeln. Es sollten in der Tat Ehrendamen anwesend sein, die aus den vornehmsten Familien des SaintMarcViertels kamen, eine Abordnung der Arbeitervereine des alten Stadtviertels und schließlich die bekanntesten Persönlichkeiten der Neustadt, Anwälte, Notare, Ärzte, ganz abgesehen von den kleinen Leuten, einer Flut sonntäglich gekleideter Menschen, die sich dort wie zu einem Fest herandrängten. Und was Félicité in diesem höchsten Triumph vielleicht noch viel stolzer machte: sie, eine der Königinnen des Zweiten Kaiserreiches, die Witwe, die so würdevoll um das gestürzte Regime trauerte, hatte die junge Republik besiegt, die in der Person des Unterpräfekten zu ihrer Begrüßung erscheinen mußte, um ihr zu danken. Man hatte zunächst nur von einer Rede des Bürgermeisters gesprochen, aber seit dem Vorabend war es gewiß, daß auch der Unterpräfekt sprechen würde. Aus so weiter Ferne sah Clotilde nur ein Getümmel von schwarzen Gehröcken und hellen Kleidern in der strahlenden Sonne. Dann vernahm sie den Klang ferner Musik, gespielt von den Laienmusikern der Stadt, und von Zeit zu Zeit trug der Wind vereinzelte Töne der Blasinstrumente zu ihr herüber.
Clotilde trat vom Fenster zurück, ging zu dem großen Eichenschrank und öffnete ihn, um ihre auf dem Tisch liegengebliebene Arbeit darin einzuschließen. In diesem Schrank, den einst die Manuskripte des Doktors gefüllt hatten und der heute leer war, hatte sie die Wäsche des Kindes untergebracht. Er schien mit seiner gähnenden Öffnung riesig und ohne Boden zu sein; doch auf den großen nackten Brettern lagen nur die zarten Wickelbänder, die kleinen Leibchen, die Mützchen, Babysöckchen, Windeln, all die feine Wäsche, jenes leichte Gefieder eines noch im Nest liegenden Vogels. Wo so viele Gedanken zuhauf geschlummert hatten, wo sich in dreißig Jahren die beharrliche Arbeit eines Mannes in Unmengen von Papieren angesammelt hatte, blieb nichts als das Linnen eines kleinen Wesens, kaum als Kleidung zu bezeichnen, die erste Wäsche, die das Kind für eine Stunde schützte und die es bald nicht mehr würde brauchen können. Der ungeheuer große alte Schrank schien dadurch aufgeheitert und ganz verjüngt.
Als Clotilde die Windeln und die Leibchen in das eine Fach eingeordnet hatte, erblickte sie in einem großen Umschlag die Überreste der Akten, die sie aus dem Feuer gerettet und dort hineingelegt hatte. Und sie erinnerte sich einer Bitte, mit der Doktor Ramond noch am Tag zuvor zu ihr gekommen war: nämlich nachzusehen, ob nicht unter den Überresten irgendein wichtiges Bruchstück von wissenschaftlichem Interesse übriggeblieben wäre. Er war verzweifelt über den Verlust der unschätzbaren Manuskripte, die ihm der Meister vermacht hatte. Gleich nach dem Tode Pascals hatte er sich bemüht, das letzte Gespräch, das er mit ihm geführt, niederzuschreiben, diese Gesamtheit umfassender Theorien, die ihm der Sterbende mit so heldenhafter Gelassenheit dargelegt hatte; aber er brachte
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