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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Verlangen nachgegeben, sie erklärte es sogar wissenschaftlich. Mag auch die Wissenschaft die Grenzen der menschlichen Erkenntnis noch so weit hinausschieben, es gibt zweifellos einen Punkt, den sie nicht überschreiten wird, und genau an dieser Stelle fand Pascal das einzige Lebensinteresse, in der Begierde des Menschen, unaufhörlich mehr zu wissen. Für Clotilde existierten seither die unbekannten Kräfte, von denen die Welt umgeben ist, ein unermeßlicher dunkler Bereich, zehnmal größer als der bereits eroberte, eine unerforschte Unendlichkeit, durch die die zukünftige Menschheit unaufhörlich emporsteigen würde. Gewiß, das war ein recht weites Feld, umfassend genug, daß die Einbildungskraft sich darin verlieren konnte. In den Stunden des Nachsinnens stillte sie dort das gebieterische Verlangen nach dem Jenseits, das offenbar dem Menschen innewohnt, gehorchte der Notwendigkeit, der sichtbaren Welt zu entfliehen, die Illusion von der absoluten Gerechtigkeit und vom künftigen Glück zu befriedigen. Das, was ihr von ihrer einstigen Qual noch blieb, ihre letzten Gedankenflüge fanden darin Beruhigung, da ja die leidende Menschheit nicht ohne den Trost der Lüge zu leben vermag. Doch alles verschmolz in ihr auf glückliche Weise. An dieser Wende einer Epoche, die von Wissenschaft übersättigt war, beunruhigt ob der Trümmer, die sie geschaffen, von Schrecken ergriffen angesichts des neuen Zeitalters, beherrscht von dem angsterfüllten Verlangen, nicht weiterzugehen, sondern sich in das Vergangene zurückzustürzen, war Clotilde das glückliche Gleichgewicht, die durch die Sorge um das Unbekannte vertiefte leidenschaftliche Liebe zum Wahren. Wenn die sektiererischen Gelehrten den Horizont versperrten und sich streng an die Erscheinungen hielten, so war es ihr erlaubt, ihr, einem einfachen guten Geschöpf, dem Rechnung zu tragen, was sie nicht wußte, was sie niemals wissen würde. Und wenn Pascals Glaubensbekenntnis der logische Schluß des ganzen Werkes war, so würde die ewige Frage nach dem Jenseits, die sie dennoch weiterhin dem Himmel stellte, vor der auf dem Marsch befindlichen Menschheit wieder das Tor zur Unendlichkeit öffnen. Da man ja immer wird lernen und sich wird darein ergeben müssen, niemals alles zu wissen, hieß es da nicht die Bewegung, das Leben selber wollen, wenn man sich das Mysterium bewahrte, einen ewigen Zweifel und eine ewige Hoffnung?
    Ein erneutes Geräusch, ein vorüberstreifender Flügel, ein leicht auf ihr Haar gehauchter Kuß, ließ sie diesmal lächeln. Er war ganz gewiß da. Und sie ging auf in einer unendlichen Zärtlichkeit, die von überallher auf sie einströmte und sie überflutete. Wie gut war er und fröhlich, und welche Liebe zu den Mitmenschen verlieh ihm seine Leidenschaft für das Leben! Er selber war vielleicht nur ein Träumer, denn er hatte den schönsten aller Träume geträumt, diesen schließlichen Glauben an eine bessere Welt, wenn die Wissenschaft den Menschen mit einer nicht abzuschätzenden Macht versehen haben wird: alles annehmen, alles für das Glück verwenden, alles wissen und alles vorhersehen, die Natur auf die Rolle einer Dienerin beschränken und in der Ruhe der Befriedigung des Geistes leben! Inzwischen genügte die gewollte und geregelte Arbeit für die gute Gesundheit aller. Vielleicht konnte man das Leiden eines Tages nutzbar machen. Und angesichts der ungeheuren Mühe, angesichts dieser Summe von Lebenden, der bösen und der guten, die trotz allem ob ihres Mutes und ihrer Bemühung zu bewundern waren, sah sie nur noch eine brüderliche Menschheit, empfand sie nur noch grenzenlose Nachsicht, unendliches Mitleid und glühende Barmherzigkeit. Wie die Sonne badet die Liebe die Erde, und die Güte ist der große Strom, aus dem alle Herzen trinken.
    Seit fast zwei Stunden führte Clotilde mit regelmäßiger Bewegung ihre Nadel, während ihre Gedanken eigene Wege gingen. Doch die Bänder der kleinen Leibchen waren wieder angenäht, und sie hatte auch tags zuvor gekaufte neue Windeln gezeichnet. Als sie ihre Näharbeit beendet hatte, stand sie auf, um die Wäsche einzuräumen. Draußen war die Sonne im Sinken begriffen, die goldenen Pfeile drangen nur noch sehr dünn und schräg durch die Ritzen der Fensterläden. Und Clotilde sah kaum noch etwas, sie mußte einen Fensterladen öffnen; angesichts des weiten Horizonts, der sich jäh vor ihr entrollte, blieb sie einen Augenblick sinnend stehen. Die große Hitze ließ jetzt nach, ein leichtes Lüftchen

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