Doktor Pascal - 20
nach einem verschwundenen Babystrümpfchen. Sie war von einer sehr stillen, sehr sanften Geschäftigkeit. Und in der Einsamkeit des Hauses hing sie an diesem Tag ihren Gedanken nach, ließ noch einmal das vergangene Jahr an sich vorüberziehen.
Unmittelbar nach dem Begräbnis, nach dieser furchtbaren Erschütterung, war Martine weggegangen; hartnäckig hielt sie an ihrer Absicht fest und wollte nicht einmal mehr die Kündigungsfrist abwarten, sondern brachte die junge Cousine einer Bäckersfrau aus der Nachbarschaft ins Haus, die ihre Stelle einnehmen sollte, ein dickes, brünettes Mädchen, das sich glücklicherweise als einigermaßen reinlich und zuverlässig erwies. Martine selber lebte in Sainte Marthe in einem elenden Loch, so knauserig, daß sie von den Jahreszinsen ihres kleinen Schatzes wohl noch Ersparnisse machte. Man wußte nichts von einem Erben, wem also würde dieser wütende Geiz von Nutzen sein? In zehn Monaten hatte sie die Souleiade nicht ein einziges Mal wieder betreten: der Herr Doktor war nicht mehr da, und sie gab auch nicht dem Wunsch nach, den Sohn des Herrn Doktors zu sehen.
Vor Clotildes innerem Auge wurde die Gestalt ihrer Großmutter Félicité lebendig. Die alte Frau Rougon kam sie von Zeit zu Zeit besuchen mit der Herablassung einer mächtigen Verwandten, die alle Sünden großzügig verzeiht, nachdem sie bitter gesühnt worden sind. Sie kam stets unangemeldet, küßte das Kind, hielt ihre Moralpredigt und erteilte Ratschläge; die junge Mutter nahm ihr gegenüber einfach die ehrerbietige Haltung an, die Pascal stets gewahrt hatte. Im übrigen ging Félicité ganz in ihrem Triumph auf. Sie wollte nun endlich einen lang gehegten, reiflich überlegten Plan verwirklichen und durch ein unvergängliches Bauwerk das Andenken an den makellosen Ruhm der Familie bewahren. Sie wollte ihr recht ansehnliches Vermögen zum Bau und zur Dotation eines Altersheims verwenden, das den Namen Rougon tragen sollte. Sie hatte bereits das Gelände gekauft, einen Teil des alten Jeu de Mail, außerhalb der Stadt, in der Nähe des Bahnhofs, und an ebendiesem Sonntag gegen fünf Uhr, wenn die Hitze ein wenig nachließ, sollte der Grundstein gelegt werden, eine wirklich feierliche Angelegenheit, der hochstehende Persönlichkeiten durch ihre Anwesenheit Bedeutung verleihen sollten und bei der sie inmitten einer ungeheuren Volksmenge die gefeierte Königin sein würde.
Clotilde empfand übrigens eine gewisse Dankbarkeit für ihre Großmutter, die bei der Eröffnung von Pascals Testament vollkommene Uneigennützigkeit bewiesen hatte. Pascal hatte die junge Frau als seine Universalerbin eingesetzt, und die Mutter, die Rechtens ein Viertel des Erbes beanspruchen konnte, hatte erklärt, daß sie den Letzten Willen ihres Sohnes achte, und auf die Erbfolge verzichtet. Sie wollte zwar all die Ihren enterben und ihnen nichts als den Ruhm hinterlassen, indem sie ihr großes Vermögen zur Errichtung jenes Altersheims verwendete, das den geachteten und gesegneten Namen der Rougons der Nachwelt überliefern sollte; aber nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang so gierig hinter dem Gelde her gewesen war, verachtete sie es jetzt, geläutert durch ein höheres Streben. Und Clotilde brauchte sich dank dieser Großzügigkeit um die Zukunft keine Sorgen mehr zu machen: die viertausend Francs Jahreszinsen würden ihr und dem Kind genügen. Sie würde es aufziehen und einen Mann aus ihm machen. Sie hatte sogar die fünftausend Francs aus dem Sekretär in Leibrenten für den Kiemen angelegt; außerdem besaß sie noch die Souleiade. Jedermann riet ihr, sie zu verkaufen. Gewiß waren die Unterhaltungskosten nicht sehr hoch, aber was für ein einsames und trauriges Leben in diesem verlassenen, großen, viel zu weitläufigen Haus, in dem sie sich wie verloren vorkommen mußte! Bis jetzt hatte sich Clotilde jedoch nicht entschließen können, die Souleiade aufzugeben. Vielleicht würde sie sich niemals dazu entschließen können!
Ach, die Souleiade! Ihre ganze Liebe war darin beschlossen, ihr ganzes Leben, all ihre Erinnerungen! Zuweilen schien es ihr, als lebte Pascal noch dort, denn sie hatte nichts darin verändert, alles war noch wie einst. Die Möbel standen an derselben Stelle, der Stundenschlag verkündete noch dieselben Gewohnheiten. Sie hatte nur sein Zimmer abgeschlossen, das nur sie allein betreten durfte wie ein Heiligtum, um zu weinen, wenn ihr das Herz gar zu schwer war. In dem Zimmer, in dem sie sich geliebt hatten, in dem
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