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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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nur summarische Zusammenfassungen zustande, er hätte die vollständigen Studien gebraucht, die tagtäglich angestellten Beobachtungen, die gewonnenen Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Gesetze. Der Verlust blieb unersetzlich, man mußte die Arbeit von vorn beginnen, und er klagte darüber, nichts als Hinweise zu haben; er sagte, daß dadurch für die Wissenschaft ein Verzug von mindestens zwanzig Jahren entstanden sei, ehe man die Gedanken des einsamen Pioniers, dessen Arbeiten durch eine barbarische, unsinnige Katastrophe vernichtet worden waren, wiederaufnehmen und nutzbar machen könne.
    Der Stammbaum, das einzige unversehrte Dokument, war dem Umschlag beigefügt, und Clotilde trug das Ganze auf den Tisch neben der Wiege. Sie nahm ein Blatt nach dem anderen aus dem Umschlag und stellte fest, was sie schon fast sicher gewußt hatte: daß nicht eine ganze Manuskriptseite übriggeblieben war, nicht eine vollständige Notiz, die einen Sinn ergeben hätte. Es existierten nur noch Bruchstücke, halbverbrannte, geschwärzte Papierfetzen ohne Zusammenhang, ohne Folge. Doch diese unvollständigen Sätze, diese halb vom Feuer verzehrten Worte, von denen niemand anderes etwas verstanden hätte, riefen ein immer stärkeres Interesse in ihr wach, je länger sie sie prüfte. Sie erinnerte sich der Gewitternacht, die Sätze vervollständigten sich, der Anfang eines Wortes rief die Personen, die Geschichten wieder wach. So geschah es, daß ihr der Name Maximes wieder unter die Augen kam; und sie sah das Leben ihres Bruders wieder vor sich, der ihr fremd geblieben war und dessen Tod – er war vor zwei Monaten gestorben – sie fast gleichgültig gelassen hatte. Dann wieder rief eine verstümmelte Zeile, die den Namen ihres Vaters enthielt, ein Gefühl des Unbehagens bei ihr hervor, denn sie glaubte zu wissen, daß dieser sich das Vermögen und das vornehme Haus seines Sohnes angeeignet hatte dank der Nichte seines Friseurs, jener so unschuldigen Rose, die auf sehr großzügige Weise dafür bezahlt worden war. Dann stieß sie noch auf andere Namen: den ihres Onkels Eugène, des ehemaligen Vizekaisers, der nun auch schon entschlafen war; den ihres Vetters Serge, des Pfarrers von Saint Eutrope, der, wie man ihr tags zuvor gesagt hatte, schwindsüchtig war und im Sterben lag. Und jedes Bruchstück nahm Leben an, die abscheuliche und brüderliche Familie erstand wieder aus diesen Überresten, aus dieser schwarzen Asche, über die nur noch unzusammenhängende Silben liefen.
    Aus Neugier faltete Clotilde den Stammbaum auseinander und breitete ihn auf dem Tisch aus. Rührung hatte sie überkommen, sie war tief bewegt über diese Reliquien; und als sie noch einmal die von Pascal wenige Minuten vor seinem Tode mit Bleistift hinzugefügten Bemerkungen las, traten ihr Tränen in die Augen. Mit welchem Mut hatte er das Datum seines Todes eingetragen, und wie spürte man seinen verzweifelten Schmerz über den Verlust des Lebens in den zittrig geschriebenen Worten, die die Geburt des Kindes ankündigten! Der Baum stieg empor, verzweigte seine Äste, entfaltete seine Blätter, und sie betrachtete ihn lange selbstvergessen und sagte sich, daß dies nun das ganze Werk des Meisters sei, dieses klassifizierte, urkundlich belegte Werden und Wachsen ihrer Familie. Sie hörte die Worte, mit denen er jeden Vererbungsfall kommentierte, sie rief sich seine Lektionen ins Gedächtnis zurück. Vor allem die Kinder interessierten sie. Der Kollege, an den der Doktor nach Nouméa geschrieben hatte, um Auskünfte über das Kind zu erhalten, das aus einer Ehe Etiennes im Bagno geboren worden war, hatte sich zu antworten entschlossen; allein er teilte nur mit, es sei ein Mädchen von anscheinend guter Gesundheit. Octave Mouret hätte seine Tochter, die sehr zart war, beinahe verloren, während sein kleiner Sohn weiterhin prachtvoll gedieh. Im übrigen war kräftige Gesundheit, außergewöhnliche Fruchtbarkeit noch immer in Valqueiras anzutreffen, im Hause Jeans, dessen Frau in drei Jahren zwei Kinder geboren hatte und mit einem dritten schwanger ging. Die kleine Brut wuchs im prallen Sonnenschein auf der fetten Erde tüchtig heran, während der Vater die Äcker bestellte und die Mutter daheim wacker die Suppe kochte und die Knirpse sauberhielt. Dort gab es frischen Lebenssaft und Arbeit genug, um eine neue Welt zu schaffen. Clotilde glaubte in diesem Augenblick den Ausruf Pascals zu vernehmen: »Ach, unsere Familie – was wird aus ihr werden, wie wird sie

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