Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
das alte Werk, ließen sich die Fälle der Heilung nicht mehr zählen. Das ließ der Phantasie des Doktors keine Ruhe. Warum nicht einen Versuch machen? Da man die erblich Geschwächten, denen es an Nervensubstanz fehlte, regenerieren wollte, brauchte man ihnen nur normale und gesunde Nervensubstanz zu verschaffen. Einzig das Verfahren mit dem Sud erschien ihm kindisch; er kam auf den Gedanken, Hirn und Kleinhirn von Hammeln unter Zusatz von destilliertem Wasser in einem Mörser zu zerstampfen und dann die so erhaltene Flüssigkeit sich setzen zu lassen und zu filtrieren. Er probierte diese Flüssigkeit, die er mit Malagawein vermischte, an seinen Patienten aus, ohne dabei zu einem nennenswerten Ergebnis zu gelangen. Als er schon den Mut verlieren wollte, kam ihm eines Tages, als er einer an Leberkolik leidenden Frau mit der kleinen PravazSpritze eine Morphiuminjektion gab, plötzlich eine Eingebung. Wenn er nun versuchte, mit seiner Flüssigkeit Einspritzungen unter die Haut zu machen? Und sobald er nach Hause gekommen war, gab er sich unverzüglich eine Spritze in die Hüfte und wiederholte das morgens und abends. Die ersten Dosen von nur einem Gramm blieben ohne Wirkung. Aber nachdem er die Dosis verdoppelt und verdreifacht hatte, war er eines Morgens beim Aufstehen entzückt, wieder Beine wie ein Zwanzigjähriger zu haben. Er steigerte die Dosis bis auf fünf Gramm, und er bekam einen freieren Atem, er hatte einen so klaren Kopf und arbeitete mit einer Leichtigkeit wie seit Jahren nicht mehr. Echtes Wohlempfinden, echte Freude am Leben überfluteten ihn. Nachdem er in Paris eine Spritze mit einem Fassungsvermögen von fünf Gramm hatte herstellen lassen, war er überrascht, welch glückliche Ergebnisse er bei seinen Patienten erzielte, die er in ein paar Tagen wieder auf die Beine brachte, so als würden sie von einer bebenden und tätigen neuen Lebenswoge erfaßt. Sein Verfahren war sicher noch unwissenschaftlich und roh, er ahnte darin alle möglichen Gefahren, vor allem hatte er Angst, Embolien zu verursachen, wenn die Flüssigkeit nicht vollkommen rein war. Dann argwöhnte er, daß die Energie seiner Genesenen zum Teil von dem Fieber herrühre, das er bei ihnen hervorrief. Aber er war nur ein Bahnbrecher, die Methode würde später vervollkommnet werden. War es nicht bereits ein Wunder, wenn man bewirkte, daß die Lahmen wieder gingen, die Schwindsüchtigen wieder aufstanden, die Irren Stunden der Klarheit hatten? Und angesichts dieses glücklichen Fundes der Alchimie des zwanzigsten Jahrhunderts tat sich eine ungeheure Hoffnung auf; er glaubte das Allheilmittel entdeckt zu haben, das Lebenselixier, bestimmt zur Bekämpfung der Debilität des Menschen, der alleinigen wirklichen Ursache aller Krankheiten, einen echten, wissenschaftlichen Jungbrunnen, der Kraft, Gesundheit und Willen verlieh und dadurch eine ganz neue, höherstehende Menschheit schaffen würde.
    In seinem Zimmer, einem nach Norden gelegenen, durch die Nähe der Platanen ein wenig düsteren Raum, lediglich mit seinem eisernen Bett möbliert, einem Mahagonisekretär und einem großen Schreibtisch, auf dem ein Mörser und ein Mikroskop standen, beendete er an diesem Morgen mit unendlicher Sorgfalt die Herstellung eines Fläschchens seiner Flüssigkeit. Nachdem er Nervensubstanz von einem Hammel unter Zusatz von destilliertem Wasser zerrieben hatte, ließ er die Flüssigkeit sich setzen und filtrierte sie dann. So erhielt er schließlich ein Fläschchen einer opalenen, von bläulichen Reflexen schillernden trüben Flüssigkeit, die er lange im Licht betrachtete, als hielte er das regenerierende und rettende Blut der Welt in Händen.
    Aber leises Pochen an der Tür und eine dringliche Stimme rissen ihn aus seinem Traum.
    »Na, wie steht˜s? Es ist Viertel nach zwölf, Herr Doktor, wollen Sie nicht zum Mittagessen kommen?«
    Unten in dem großen kühlen Eßzimmer wartete tatsächlich das Mittagessen. Man hatte die Fensterläden geschlossen gelassen, ein einziger Laden war eben erst einen Spalt breit geöffnet worden. Der Raum wirkte freundlich mit seinen Paneelen aus perlgrauer Holztäfelung, die durch feine blaue Linien betont wurden. Der Tisch, das Buffet, die Stühle hatten wohl einst das EmpireMobiliar in den Zimmern vervollständigt; vom hellen Grund hob sich kraftvoll das alte Mahagoni mit seinem intensiven Rot ab. Eine stets glänzende Messinghängelampe funkelte wie eine Sonne, während an den vier Wänden in Pastell gemalte große Sträuße
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher