Doktor Pascal - 20
solche Reise dennoch nicht gewagt, wenn nicht sein Arzt ihn in die Bäder von SaintGervais geschickt hätte. Demzufolge brauchte er nur noch einen Umweg von wenigen Meilen zu machen; er war am Morgen unvermutet bei der alten Frau Rougon hereingeschneit, fest entschlossen, noch am selben Abend weiterzufahren, nachdem er sie ausgefragt und das Kind gesehen hatte.
Gegen zwei Uhr saßen Pascal und Clotilde noch am Brunnen unter den Platanen, wohin Martine ihnen den Kaffee gebracht hatte, als Félicité mit Maxime ankam.
»Mein liebes Kind, welche Überraschung! Ich bringe dir deinen Bruder.«
Betroffen hatte sich das junge Mädchen vor diesem hageren, gelbgesichtigen Fremden, den sie kaum wiedererkannte, erhoben. Seit ihrer Trennung im Jahre 1854 hatte sie ihn nur zweimal gesehen, das erstemal in Paris, das zweitemal in Plassans. Doch sie hatte ihn deutlich als einen eleganten und energischen Menschen in Erinnerung. Jetzt war sein Gesicht hohl geworden, die Haare lichteten sich und waren von weißen Fäden durchzogen. Dennoch erkannte sie ihn schließlich wieder mit seinem hübschen, klugen Kopf, der selbst noch in seinem vorzeitigen Verfall von beunruhigender mädchenhafter Anmut war.
»Wie prächtig du aussiehst!« sagte er nur, als er seine Schwester umarmte.
»Ja«, erwiderte sie, »man muß in der Sonne leben … Ach, wie freue ich mich, dich zu sehen!«
Pascal hatte mit dem Blick des Arztes seinen Neffen sofort bis auf den Grund durchsucht. Er umarmte ihn jetzt auch.
»Guten Tag, mein Junge … Sie hat recht, siehst du, man gedeiht nur in der Sonne gut, wie die Bäume!«
Félicité war rasch bis vors Haus gegangen. Sie kam zurück und rief:
»Ist denn Charles nicht hier?«
»Nein«, sagte Clotilde. »Er war gestern bei uns. Onkel Macquart hat ihn mitgenommen, und er soll ein paar Tage in Les Tulettes bleiben.«
Félicité war verzweifelt. Sie war nur deshalb gekommen, weil sie fest angenommen hatte, das Kind bei Pascal zu finden. Was jetzt tun? Der Doktor schlug in seiner ruhigen Art vor, an den Onkel zu schreiben, der Charles gleich am nächsten Morgen zurückbringen würde. Als er dann erfuhr, daß Maxime unbedingt mit dem NeunUhrZug wieder abreisen wollte, ohne zu übernachten, hatte er einen anderen Einfall. Er würde vom Wagenvermieter einen Landauer holen lassen, und sie könnten zu viert eine hübsche Spazierfahrt machen und Charles bei Onkel Macquart besuchen. Von Plassans nach Les Tulettes waren es keine drei Meilen: eine Stunde hin, eine Stunde zurück, da könnten sie noch fast zwei Stunden dort bleiben, wenn sie um sieben Uhr zurück sein wollten. Martine würde das Abendessen richten, und Maxime hätte noch genügend Zeit, zu essen und seinen Zug zu nehmen.
Doch Félicité wurde unruhig, sichtlich in Sorge wegen dieses Besuchs bei Macquart.
»Wo denkt ihr hin! Ich fahre doch nicht bei dieser Gewitterluft nach Les Tulettes. Es ist doch auch viel einfacher, jemanden loszuschicken und Charles holen zu lassen.«
Pascal schüttelte den Kopf. Es war durchaus nicht immer so einfach, Charles holen zu lassen. Er war ein Kind ohne Vernunft, das zuweilen bei der geringsten Laune wegrannte wie ein ungebändigtes Tier. Und so mußte sich die alte Frau Rougon schließlich geschla gen geben, wütend, daß sie nichts hatte vorbereiten können und nun alles dem Zufall überlassen mußte.
»Macht meinetwegen, was ihr wollt! Mein Gott, das fängt ja wieder mal gut an!«
Martine holte den Landauer, und es hatte noch nicht drei Uhr geschlagen, als die beiden Pferde die Straße nach Nizza entlangtrabten, den Hang hinunter, der zur Viornebrücke führte. Man bog dann nach links ab, um fast zwei Kilometer weit an den bewaldeten Ufern des Flusses entlangzufahren. Dann führte der Weg durch die Schluchten der Seille, ein schmaler Engpaß zwischen zwei riesigen Felswänden, die von der Glut der Sonne verbrannt und vergoldet waren. In den Spalten wuchsen Pinien; helmbuschartige Baumwipfel, von unten gesehen kaum größer als Grasbüschel, säumten die Bergkämme und hingen über dem Abgrund. Eine chaotische, vom Blitz zerschmetterte Landschaft, ein Höllenschlund mit seinen tosenden Krümmungen, seinen Rinnsalen blutender Erde, die aus jedem Einschnitt hervorquoll, und trostlose Einsamkeit, die nur vom Flug der Adler gestört wurde.
Félicité sagte kein Wort, ihr Kopf arbeitete, sie schien niedergedrückt von ihren Überlegungen. Es war in der Tat sehr schwül, die Sonne brannte hinter einem Schleier großer
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