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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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mit höhnischem Grinsen auf seinem Vorschlag.
    »Aber ja doch, Kinder, wir würden bei der Gelegenheit auch die alte Mutter sehen, unser aller Mutter. Das ist nun mal so, ihr wißt es ja, wir stammen alle von ihr ab, und es wäre nicht sehr höflich, wenn wir nicht hingingen und ihr einen guten Tag wünschten, zumal mein kleiner Neffe, der von so weit her kommt, sie vielleicht ewig nicht mehr gesehen hat … Ich verleugne sie nicht, zum Donnerwetter noch mal! Gewiß, sie ist verrückt; aber das erlebt man nicht oft, alte Mütter, die die Hundert überschritten haben, und da kann man doch ein wenig freundlich zu ihr sein.«
    Schweigen trat ein. Ein leichter eisiger Hauch hatte sie angeweht. Clotilde, die bislang stumm geblieben war, sagte als erste mit bewegter Stimme:
    »Ihr habt recht, Onkel, wir gehen alle hin.«
    Auch Félicité mußte einwilligen. Man stieg wieder in den Landauer. Macquart setzte sich neben den Kutscher. Ein Unbehagen hatte Maximes müdes Gesicht bleich werden lassen; und während der kurzen Fahrt fragte er Pascal mit dem Ausdruck väterlichen Interesses, unter dem sich eine wachsende Unruhe verbarg, über Charles aus. Der Doktor, durch die gebieterischen Blicke seiner Mutter gehemmt, schwächte die Wahrheit ab. Mein Gott, der Junge hatte keine sehr kräftige Gesundheit, und ebendeshalb ließ man ihn gern wochenlang bei dem Onkel auf dem Lande; indessen litt er an keiner bestimmten Krankheit. Pascal fügte nicht hinzu, daß er eine Zeitlang den Traum gehegt hatte, ihm durch Einspritzungen von Nervensubstanz Hirn und Muskeln zu geben, daß aber eine immer wiederkehrende Erscheinung ihn davon abgehalten hatte. Die geringsten Einstiche führten nämlich bei dem Kleinen zu Blutungen, die man jedesmal mit Druckverbänden zum Stillstand bringen mußte: eine Erschlaffung der Gewebe, die auf die Degeneration zurückzuführen war, ein blutiger Tau, der auf der Haut perlte; der Knabe hatte vor allem oft so plötzliches, so heftiges Nasenbluten, daß man ihn nicht allein zu lassen wagte aus Furcht, alles Blut könnte aus seinen Adern davonfließen. Und der Doktor sagte zum Schluß, er hoffe, daß der Verstand des Knaben, wenn er auch träge sei, sich in einer Umgebung mit regerer geistiger Aktivität noch entwickeln werde.
    Man war bei der Anstalt angekommen. Macquart, der zugehört hatte, stieg vom Kutschbock herab und sagte:
    »Er ist ein sehr, sehr sanfter Junge. Und außerdem ist er schön wie ein Engel!«
    Maxime wurde noch bleicher und fröstelte trotz der erstickenden Hitze; er stellte keine Fragen mehr. Er betrachtete die weitläufigen Gebäude der Irrenanstalt, die Flügel der durch Gärten voneinander getrennten verschiedenen Abteilungen, für Männer und für Frauen, für ruhige Kranke und für Tobsüchtige. Es herrschte große Sauberkeit, in der düsteren Einsamkeit hörte man nur Schritte und das Klappern der Schlüssel. Der alte Macquart kannte alle Wärter. Im übrigen öffneten sich die Türen vor Doktor Pascal, dem man gestattet hatte, einige der Insassen zu behandeln. Sie gingen eine Galerie entlang und bogen dann in einen Hof ein. Dort war es: ein Zimmer im Erdgeschoß, ein hell tapezierter, nur mit einem Bett, einem Schrank, einem Tisch, einem Lehnsessel und zwei Stühlen ausgestatteter Raum. Die Wärterin, die ihre Patientin eigentlich nie allein lassen durfte, hatte sich gerade für kurze Zeit entfernt. Am Tisch, einander gegenüber, saßen nur die Irre, starr in ihrem Lehnsessel aufgerichtet, und das Kind auf einem Stuhl, ganz damit beschäftigt, Bilder auszuschneiden.
    »Herein, herein!« wiederholte Macquart. »Oh, es besteht keine Gefahr, sie ist ganz brav!«
    Die Urahne, Adélaïde Fouque, von ihren Kindeskindern, von der ganzen großen Familie mit dem Kosenamen Tante Dide bedacht, wandte nicht einmal den Kopf. Von Jugend an hatten hysterische Störungen sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Heißblütig, leidenschaftlich in der Liebe, von Krisen erschüttert, hatte sie so das hohe Alter von dreiundachtzig Jahren erreicht, als ein furchtbarer Schmerz, ein schrecklicher seelischer Schock sie in den Wahnsinn trieb. Seitdem, seit einundzwanzig Jahren, stand ihr Verstand still, eine plötzliche Entkräftung, die jede Heilung unmöglich machte. Heute, mit hundertundvier Jahren, lebte sie immer noch wie eine Vergessene, eine friedliche Irre mit verkalktem Gehirn, und dieser Zustand des Wahnsinns konnte noch endlos lange unverändert bleiben, ohne den Tod herbeizuführen. Indessen war die

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