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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
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älteren taubstummen Gärtners lebte, konnte ihn zornig machen.
    »Ein Kerl, der Angst vor dem Leben gehabt hat, hörst du? Angst vor dem Leben! Ja, ein Egoist, hart und geizig! Er hat nur deshalb jede Frau aus seinem Dasein verbannt, weil er tödliche Angst hatte, ihr Schuhe kaufen zu müssen. Und er hat nur anderer Leute Kinder gekannt, die ihn gepeinigt haben: daher sein Haß auf die Kinder, die für ihn nur zum Züchtigen da sind … Die Angst vor dem Leben, die Angst vor den Lasten und Pflichten, den Widerwärtigkeiten und den Katastrophen! Die Angst vor dem Leben, die dazu führt, daß man aus Furcht vor seinen Schmerzen auch seine Freuden zurückweist! Ach, siehst du, diese Feigheit bringt mich hoch, ich kann sie nicht verzeihen … Man muß leben, voll und ganz leben, das ganze Leben leben, und lieber noch das Leiden, das Leiden allein, als dieser Verzicht, dieses Abtöten alles Lebendigen und Menschlichen in uns!«
    Herr Bellombre hatte sich erhoben und ging mit friedlichen kleinen Schritten in seinem Garten spazieren. Clotilde, die ihn immer noch schweigend betrachtete, sagte schließlich:
    »Es gibt aber doch die Freude des Entsagens. Entsagen, nicht leben, sich für das Mysterium bewahren, ist das nicht das große Glück der Heiligen gewesen?«
    »Wenn sie nicht gelebt haben«, rief Pascal, »können sie keine Heiligen sein.«
    Doch er fühlte, wie sie aufbegehrte, wie sie ihm wiederum zu entgleiten drohte. In der Besorgnis um das Jenseits wurzelt letzten Endes die Angst vor dem Leben und der Haß gegen das Leben. Deshalb fand er sein so zärtliches und so versöhnliches Lachen wieder.
    »Nein, nein, genug davon für heute, streiten wir uns nicht mehr, wir wollen uns lieber von Herzen gern haben … Und hör nur, Martine ruft uns, laß uns essen gehen.«
     

Kapitel III
    Einen Monat lang nahm die Mißstimmung zu, und Clotilde litt vor allem darunter, daß Pascal jetzt die Schubfächer verschloß. Er hatte zu ihr nicht mehr das ruhige Vertrauen von einst, und sie war dadurch so sehr verletzt, daß sie, hätte sie den Schrank offen gefunden, die Aktenbündel ins Feuer geworfen hätte, wozu ihre Großmutter Félicité sie dauernd drängte. Und die Zwistigkeiten begannen von neuem, oft sprach man zwei Tage lang nicht miteinander.
    Eines Vormittags nach einer solchen Verstimmung, die seit dem vorvergangenen Abend andauerte, sagte Martine, während sie das Mittagessen auftrug:
    »Vorhin, als ich über den Place de la SousPréfecture ging, habe ich einen Fremden zu Madame Félicité hineingehen sehen, der mir sehr bekannt vorkam … Ja, es sollte mich nicht wundern, Mademoiselle, wenn es Ihr Bruder gewesen wäre.«
    Sogleich sprachen Pascal und Clotilde wieder miteinander.
    »Dein Bruder? Hat Großmütter ihn denn erwartet?«
    »Nein, ich glaube nicht … Seit über einem halben Jahr wartet sie auf ihn. Ich weiß nur, daß sie ihm vor acht Tagen noch einmal geschrieben hat.«
    Und sie fragten Martine aus.
    »Herrje, ich kann˜s nicht sagen, Herr Doktor, denn seit ich Herrn Maxime vor vier Jahren gesehen habe, als er auf dem Wege nach Italien für zwei Stunden bei uns war, hat er sich vielleicht sehr verändert … Mir war aber so, als hätte ich seinen Rücken wiedererkannt.«
    Die Unterhaltung ging weiter; Clotilde schien glücklich über dieses Ereignis, das endlich das lastende Schweigen brach, und Pascal sagte zum Schluß:
    »Na gut! Wenn er es ist, wird er uns ja besuchen kommen.«
    Es war in der Tat Maxime. Er hatte nach monatelanger Weigerung den drängenden Bitten der alten Frau Rougon nachgegeben, die auch in seinem Falle eine immer noch offene Wunde der Familie zu schließen hatte. Die Geschichte war alt, und sie wurde mit jedem Tag schlimmer.
    Im Alter von siebzehn Jahren, es war jetzt schon fünfzehn Jahre her, hatte Maxime mit einer Dienstmagd, die von ihm verführt worden war, ein Kind gehabt, törichtes Abenteuer eines frühreifen Knaben. Saccard, sein Vater, und seine Stiefmutter Renée, die nur über die unwürdige Wahl verärgert war, hatten einfach darüber gelacht. Die Dienstmagd, Justine Mégot, stammte ausgerechnet aus einem Dorf der Umgebung, ein blondes Mädchen von ebenfalls siebzehn Jahren, fügsam und sanft; man hatte sie mit einer Rente von zwölfhundert Francs nach Plassans zurückgeschickt, damit sie den kleinen Charles aufziehe. Drei Jahre später hatte sie dort einen Sattler aus der Vorstadt geheiratet, Anselme Thomas, einen guten Arbeiter, einen vernünftigen Burschen, den die
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