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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
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ließ?«
    Pascal schien zu erwachen, seltsam berührt, Clotilde neben sich zu sehen, so jung, mit so leuchtenden, klaren schönen Augen im Schatten des großen Hutes. Etwas war vorübergestrichen, ein und derselbe Hauch hatte sie beide durchweht. Sie faßten sich nicht wieder unter, sie schritten Seite an Seite dahin.
    »Ach, Liebling, es wäre zu schön, wenn die Menschen nicht alles verdürben! Albine ist tot, und Serge ist jetzt Pfarrer in SaintEutrope und lebt dort mit seiner Schwester Désirée, einem braven Geschöpf, das das Glück hat, halb schwachsinnig zu sein. Er ist ein heiliger Mann, ich habe niemals das Gegenteil gesagt … Man kann ein Mörder sein und dennoch Gott dienen.«
    Und er fuhr fort, sprach über die Härten des Daseins, über die abscheuliche, unheilvolle Menschheit, ohne sein fröhliches Lächeln aufzugeben. Er liebte das Leben und verwies mutig auf das unablässige Wirken des Lebens, trotz alles Schlechten, das es bergen, und trotz allen Ekels, den es zuweilen erregen mag. Das Leben mochte noch so grauenvoll erscheinen, es mußte wohl groß und gut sein, da man, um es zu leben, einen so zähen Willen an den Tag legte, zweifellos im Dienste ebendieses Willens und der großen unbekannten Arbeit, die das Leben vollbrachte. Gewiß, er war ein Wissenschaftler, ein Hellsichtiger, er glaubte nicht an eine Menschheit der Idylle, die in einer Natur von Milch und Honig lebte, er sah im Gegenteil die Krankheiten und die Makel, stellte sie zur Schau, ging ihnen auf den Grund, katalogisierte sie seit dreißig Jahren; aber seine Leidenschaft für das Leben, seine Bewunderung für die Kräfte des Lebens genügten, ihn mit ständiger Freude zu erfüllen, aus der auf natürliche Weise seine Liebe zu den anderen zu fließen schien, ein brüderliches Mitleid, eine Sympathie, die man unter der Rauheit des Anatomen und unter der zur Schau getragenen Unpersönlichkeit seiner Studien spürte.
    »Ach was!« schloß er und wandte sich ein letztes Mal zu den trübseligen weiten Feldern um. »Das Paradou ist nicht mehr, sie haben es ausgeplündert, beschmutzt, zerstört; doch was macht das schon! Wieder werden Weinreben gepflanzt, wächst das Korn, eine ganze Flut neuer Ernten; wieder werden sich Liebende finden in den fernen Tagen der Weinlese und der Ernte … Das Leben ist ewig, es fängt immer von neuem an und wächst.«
    Er hatte wieder ihren Arm genommen, und als gute Freunde, eng aneinandergeschmiegt, gingen sie nach Hause in der Abenddämmerung, die langsam am Himmel erlosch in einem stillen See von Veilchen und Rosen. Und als die Frauen der Vorstadt sie wieder beide vorüberkommen sahen, den mächtigen und mildtätigen alten König, auf die Schulter eines liebreizenden und demütigen Kindes gestützt, dessen Jugend ihm Kraft gab, schauten sie ihnen, vor ihren Türen sitzend, mit gerührtem Lächeln nach.
    Auf der Souleiade spähte Martine nach ihnen aus. Schon von weitem machte sie eine große Gebärde. Wie wohl, wollte man heute etwa nicht zu Abend essen? Und als sie herankamen, sagte das Dienstmädchen:
    »Ach, jetzt müssen Sie noch ein Viertelstündchen warten. Ich habe nicht gewagt, meine Hammelkeule aufs Feuer zu setzen.«
    Entzückt blieben sie draußen in dem zu Ende gehenden Tag. Der Pinienhain, der im Dunkel ertrank, strömte einen balsamischen Harzgeruch aus, und von der noch brennendheißen Tenne, auf der ein letzter rosiger Widerschein erstarb, stieg ein Schauer auf. Es war wie eine Erleichterung, ein Seufzer des Wohlbehagens, ein Ausruhen des ganzen Besitztums, der mageren Mandelbäume und der gekrümmten Ölbäume unter dem weiten erblassenden Himmel voll reiner Klarheit, während die Platanengruppe hinter dem Haus nur noch eine schwarze, undurchdringliche Masse von Finsternis war, aus der man den Brunnen mit seinem ewigen kristallenen Gesang hörte.
    »Sieh da!« sagte der Doktor. »Herr Bellombre hat schon gegessen und genießt die Abendkühle.«
    Er wies mit der Hand auf das Nachbargrundstück, wo auf einer Bank ein großer, magerer Greis von siebzig Jahren saß, mit langem, von Falten zerfurchtem Gesicht und großen starren Augen, äußerst korrekt in seine Krawatte und seinen Überrock gezwängt.
    »Das ist ein Weiser«, murmelte Clotilde. »Der ist glücklich.«
    Pascal erhob laut Einspruch.
    »Der? Das will ich nicht hoffen!«
    Er haßte niemanden, allein Herr Bellombre, der ehemalige Lehrer der Septima, der jetzt pensioniert war und in seinem Häuschen nur in Gesellschaft eines noch
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