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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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und abgelebt durch den Verfall des Geschlechts. Wie sie so einander gegenübersaßen, war das schwachsinnige Kind in seiner Todesschönheit gleichsam das Ende der Urahne, der Vergessenen.
    Maxime beugte sich herab, um einen Kuß auf die Stirn des Kindes zu drücken; sein Herz blieb kalt, diese Schönheit erschreckte ihn, sein Unbehagen wuchs in diesem Zimmer des Wahnsinns, das erfüllt war von einem weit zurückreichenden menschlichen Elend.
    »Wie schön du bist, mein Kleiner! Hast du mich auch ein wenig lieb?«
    Charles sah ihn an, begriff nicht und beschäftigte sich weiter mit seinen Bildern.
    Doch alle waren betroffen. Ohne daß der verschlossene Ausdruck ihres Gesichts sich verändert hätte, weinte Tante Dide; ein Tränenstrom floß aus ihren lebendigen Augen über ihre erstorbenen Wangen. Sie ließ den Blick noch immer nicht von dem Kind und weinte langsam weiter vor sich hin.
    Da bemächtigte sich Pascals eine außerordentliche Erregung. Er hatte Clotildes Arm genommen und preßte ihn heftig, ohne daß sie wußte, warum. Vor seinen Augen erstand das ganze Geschlecht, der legitime und der illegitime Zweig, die beide diesem schon von der Nervenkrankheit befallenen Stamm entsprossen waren. Die fünf Generationen standen sich hier gegenüber, die Rougons und die Macquarts, an der Wurzel Adelaide Fouque, dann der Onkel, der alte Bandit, dann er selber, dann Clotilde und Maxime und schließlich Charles. Félicité füllte den Platz ihres verstorbenen Mannes aus. Es gab keine Lücke in dieser Kette einer logischen und unerbittlichen Erbfolge. Und was für ein Jahrhundert wurde da heraufbeschworen in dieser unglücklichen Zelle, die erfüllt war von jenem weit zurückreichenden Elend, so grauenvoll, daß trotz der drückenden Hitze alle erschauerten.
    »Was ist denn, Meister?« fragte die zitternde Clotilde ganz leise.
    »Nein, nein, es ist nichts!« murmelte der Doktor. »Ich sage es dir später.«
    Macquart, der als einziger noch immer grinste, schalt die alte Mutter aus. Das war vielleicht ein Einfall, die Leute mit Tränen zu empfangen, wenn sie sich die Mühe machten, einen zu besuchen! Das schickte sich ja wohl nicht. Dann wandte er sich wieder an Maxime und Charles.
    »Nun ja, lieber Neffe, da seht Ihr ihn, Euern Jungen. Ist er nicht hübsch, und macht er Euch nicht trotzdem Ehre?«
    Félicité schaltete sich hastig ein, sehr unzufrieden über die Wendung, die die Dinge genommen hatten, und nur noch auf eiligen Aufbruch bedacht.
    »Er ist gewiß ein schönes Kind und weniger zurückgeblieben, als man glaubt. Sieh nur, wie geschickt er mit den Händen ist … Und du sollst mal sehen, wenn du in Paris erst einen aufgeweckten Burschen aus ihm gemacht hast, nicht wahr, anders, als wir es in Plassans haben tun können.«
    »Gewiß, gewiß«, murmelte Maxime. »Ich sage nicht nein, ich will es mir durch den Kopf gehen lassen.« Immer noch verlegen, fügte er hinzu: »Ihr versteht, ich bin nur gekommen, um ihn zu sehen … Ich kann ihn jetzt nicht mitnehmen, da ich ja einen Monat in SaintGervais verbringen muß. Aber sowie ich wieder in Paris bin, werde ich darüber nachdenken und Euch schreiben.«
    Er zog seine Uhr.
    »Donnerwetter, schon halb sechs! … Ihr wißt, daß ich auf keinen Fall den NeunUhrZug versäumen möchte.«
    »Ja, ja, gehen wir«, sagte Félicité. »Wir haben hier nichts mehr zu erledigen.«
    Macquart versuchte vergebens, sie mit allerlei Geschichten aufzuhalten. Er erzählte von den Tagen, da Tante Dide geschwätzig war, er versicherte, daß er sie eines Morgens dabei angetroffen habe, wie sie gerade eine Romanze aus ihrer Jugendzeit sang. Übrigens brauche er den Wagen nicht, er werde das Kind zu Fuß nach Hause bringen, da man es ja doch bei ihm lasse.
    »Umarme deinen Papa, mein Kind, denn man weiß zwar, wann man sich besucht, doch man weiß nie, ob man sich wiedersieht!«
    So wie vorhin, hatte Charles verwundert und gleichgültig aufgeblickt, und der verwirrte Maxime drückte ihm einen zweiten Kuß auf die Stirn.
    »Sei recht brav und ordentlich, mein Kleiner … Und hab mich ein wenig lieb.«
    »Los, los, wir haben keine Zeit zu verlieren«, wiederholte Félicité.
    Aber jetzt kam die Wärterin wieder herein. Sie war ein großes kräftiges Mädchen, das ausschließlich mit der Pflege der Irren betraut war. Sie half ihr morgens beim Aufstehen, brachte sie abends zu Bett, fütterte sie und hielt sie sauber wie ein Kind. Sogleich begann sie mit Doktor Pascal zu reden, der sie ausfragte.

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