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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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bei meinem Gesundheitszustand die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Bin ich nicht selber ein Kind, ein Kranker, der Pflege braucht? Du würdest mich pflegen, du wärest da, wenn ich wirklich einmal nicht mehr laufen kann.«
    Seine Stimme brach vor Mitleid mit sich selbst. Er sah sich gelähmt, er sah Clotilde als barmherzige Schwester an seinem Bett; und wenn sie einwilligte, ledig zu bleiben, würde er ihr gern sein Vermögen hinterlassen, damit sein Vater es nicht bekäme. In seiner Angst, allein zu sein und vielleicht bald eine Krankenpflegerin nehmen zu müssen, wirkte er sehr rührend.
    »Das wäre sehr lieb von dir, und du würdest es nicht zu bereuen haben.«
    Aber Martine, die gerade den Braten herumreichte, war vor Schreck stehengeblieben; und ringsum am Tisch rief der Vorschlag dieselbe Bestürzung hervor. Félicité machte sich als erste zu seinem Fürsprecher, da sie fühlte, daß Clotildes Fortgehen ihre Pläne begünstigen würde. Sie schaute Clotilde an, die noch stumm und wie betäubt dasaß, während Doktor Pascal mit sehr bleichem Gesicht abwartete.
    »Oh, lieber Bruder, lieber Bruder«, stammelte das junge Mädchen und wußte zunächst nichts anderes zu sagen.
    Da legte sich die Großmutter ins Mittel.
    »Ist das alles, was du zu sagen hast? Das ist doch sehr gut, was dein Bruder dir da vorschlägt. Wenn er sich davor fürchtet, Charles jetzt mitzunehmen, so kannst du doch schon immer nach Paris gehen und den Kleinen später dann nachkommen lassen … Sieh mal, das trifft sich ganz ausgezeichnet. Dein Bruder appelliert an dein Herz … Pascal, ist sie ihm nicht eine gute Antwort schuldig?«
    Mit Mühe war der Doktor wieder Herr seiner selbst geworden. Man spürte indessen die große Kälte, die ihn hatte erstarren lassen. Er sprach langsam.
    »Ich versichere Euch noch einmal, daß Clotilde sehr vernünftig ist und den Vorschlag schon annehmen wird, wenn es sein soll.«
    Ganz bestürzt begehrte das junge Mädchen auf.
    »Meister, willst du mich denn fortschicken? Gewiß, ich danke Maxime. Aber alles verlassen, mein Gott! Alles verlassen, was mich liebt, alles, was ich bisher geliebt habe!«
    Sie machte eine verzweifelte Gebärde, mit der sie auf Menschen und Gegenstände wies und gleichsam die ganze Souleiade umfaßte.
    »Und wenn Maxime dich nun braucht?« begann Pascal wieder.
    Ihre Augen wurden feucht; sie verharrte einen Augenblick zitternd, denn sie allein hatte begriffen. Die grausame Vision war von neuem heraufbeschworen: Maxime gelähmt, in einem kleinen Wagen von einem Bedienten gezogen, wie der Nachbar, dem sie oft begegnete. Doch ihre Leidenschaft erhob Einspruch gegen ihr Mitleid. Hatte sie eine Verpflichtung einem Bruder gegenüber, der ihr fünfzehn Jahre lang ein Fremder geblieben war? War ihre Pflicht nicht dort, wo ihr Herz war?
    »Hör zu, Maxime«, sagte sie schließlich, »laß auch mich überlegen. Ich werde sehen … Du kannst sicher sein, daß ich dir sehr dankbar bin. Und wenn du mich eines Tages wirklich brauchen solltest, nun ja, dann werde ich mich ganz gewiß entscheiden.«
    Zu weiteren Zugeständnissen war sie nicht zu bewegen. Félicité in ihrer ständigen Erregung ereiferte sich immer mehr, während der Doktor es jetzt so hinstellte, als habe sie ihr Wort gegeben. Martine brachte eine Nachspeise, ohne auch nur im geringsten ihre Freude zu verbergen. Das Fräulein mitnehmen, das war vielleicht eine Idee! Da würde der Herr Doktor vor Traurigkeit sterben, wenn er dann ganz allein bliebe! Das Ende des Abendessens wurde durch diesen Zwischenfall hinausgezögert. Man war noch beim Nachtisch, als es halb neun schlug. Jetzt wurde Maxime unruhig, klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, wollte aufbrechen.
    Auf dem Bahnhof, wohin ihn alle begleitet hatten, umarmte er ein letztes Mal seine Schwester.
    »Denk daran!«
    »Hab keine Angst«, erklärte Félicité, »wir sind ja da, um sie an ihr Versprechen zu erinnern.«
    Der Doktor lächelte, und sowie der Zug sich in Bewegung setzte, winkten alle drei mit den Taschentüchern.
    An jenem Tage kehrten Doktor Pascal und Clotilde, nachdem sie die Großmutter bis zu ihrer Tür begleitet hatten, langsam nach der Souleiade zurück und verbrachten dort einen köstlichen Abend. Das Unbehagen der vorangegangenen Wochen, der heimliche Gegensatz, der sie entzweite, schienen geschwunden. Niemals hatten sie sich so glücklich gefühlt, daß sie eins und unzertrennlich waren. Als ob nach langer Krankheit die Gesundheit in ihnen

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