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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Einer der Lieblingsträume des Doktors war es, die Irren mit seiner Methode zu behandeln und zu heilen, indem er ihnen Spritzen gab. Wenn bei ihnen das Gehirn gefährdet war, warum sollten dann nicht Einspritzungen mit Nervensubstanz ihnen Widerstandsfähigkeit und Willenskraft verleihen und die dem Organ zugefügten Schäden heilen? Anfangs hatte er sogar daran gedacht, das Heilverfahren an der alten Mutter zu erproben; dann aber waren ihm Bedenken gekommen, eine Art heiligen Schreckens; außerdem bedeutete der Wahnsinn in diesem Alter den totalen, irreparablen Verfall. Er hatte eine andere Versuchsperson gewählt, den Hutmacher Sarteur, der sich seit einem Jahr in der Anstalt befand; er war von selber gekommen mit der flehentlichen Bitte, ihn einzusperren, um ihn vor einem Verbrechen zu bewahren. Während seiner Anfälle packte ihn ein solches Verlangen zu töten, daß er auf jeden hätte losstürzen mögen, der ihm über den Weg lief. Er war klein und sehr dunkel, hatte eine fliehende Stirn, ein Vogelgesicht mit einer großen Nase und einem sehr kurzen Kinn; seine linke Wange war sichtlich dicker als die rechte. Und der Doktor erzielte wunderbare Ergebnisse bei diesem Gestörten, dessen krankhafte Neigung seit einem Monat nicht zum Ausbruch gekommen war. Auf die Frage des Doktors antwortete die Wärterin auch diesmal, daß Sarteur ruhig geworden sei und daß es ihm immer besser gehe.
    »Hast du gehört, Clotilde!« rief Pascal entzückt. »Ich habe keine Zeit, ihn heute abend zu besuchen, wir kommen morgen wieder, da ist mein Besuchstag … Ach, wenn ich es wagen könnte, wenn sie noch jung wäre …«
    Seine Blicke kehrten wieder zu Tante Dide zurück. Doch Clotilde, die über seine Begeisterung lächelte, sagte sanft:
    »Nein, nein, Meister, du kannst kein Leben erneuern … Laß uns jetzt gehen, komm. Wir sind die letzten.«
    Tatsächlich waren die anderen schon gegangen. Macquart stand auf der Schwelle; mit einem Ausdruck, als ob er sich über alle Welt lustig machte, sah er zu, wie Félicité und Maxime sich entfernten. Und Tante Dide, die Vergessene, blieb in ihrer erschreckenden Magerkeit unbeweglich sitzen, die Augen von neuem auf Charles mit dem erschöpften weißen Gesicht unter der königlichen Haarfülle geheftet.
    Auf der Heimfahrt fühlte man sich unbehaglich. In der Hitze, die die Erde ausströmte, rollte der Landauer schwerfällig dahin. An dem gewitterschwangeren Himmel zog die Abenddämmerung wie kupferfarbene Asche herauf. Am Anfang wurden noch einige belanglose Worte gewechselt, doch als man dann durch die Schluchten der Seille fuhr, verstummte jede Unterhaltung angesichts der beunruhigenden, bedrohlichen riesigen Felsen, deren Wände sich immer enger zusammenzuschieben schienen. War das nicht das Ende der Welt? Würde man nicht in die unbekannte Tiefe irgendeines Abgrunds rollen? Ein Adler flog über sie hinweg und stieß einen lauten Schrei aus.
    Weiden tauchten wieder auf, man fuhr jetzt am Ufer der Viorne entlang; da sagte Félicité unvermittelt, als setzte sie eine begonnene Unterhaltung fort:
    »Du brauchst keine Angst zu haben, daß die Mutter Schwierigkeiten macht. Sie hat Charles gern, aber sie ist eine sehr vernünftige Frau, und sie begreift vollkommen, daß es im Interesse des Kindes liegt, wenn du es mitnimmst. Ich muß dir außerdem gestehen, daß der arme Kleine nicht sehr glücklich bei ihr ist, denn natürlich hat ihr Mann mehr für seinen eigenen Sohn und seine eigene Tochter übrig … Nun ja, du mußt schon alles wissen.«
    Und sie redete immer weiter, da sie ohne Zweifel Maxime verpflichten und ihm ein verbindliches Versprechen entlocken wollte. Sie redete bis Plassans. Und als der Landauer über das Vorstadtpflaster holperte, sagte sie plötzlich:
    »Sieh mal, da ist ja die Mutter … Die dicke Blonde an der Tür dort.«
    Vor einem Sattlerladen, wo Pferdegeschirre und Halfter hingen, saß Justine draußen an der frischen Luft auf einem Stuhl und strickte an einem Strumpf, während das kleine Mädchen und der kleine Junge ihr zu Füßen auf der Erde spielten; dahinter erblickte man im Dunkel des Ladens Thomas, einen dicken Mann mit dunklem Haar, der an einem Sattel nähte.
    Maxime hatte den Kopf vorgestreckt, ohne Erregung, einfach aus Neugier. Er war sehr erstaunt beim Anblick dieser so brav und so bürgerlich aussehenden kräftigen Frau von zweiunddreißig Jahren, die nichts mehr von dem übermütigen kleinen Mädchen hatte, mit dem er seine ersten Liebeserfahrungen

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