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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sammelte, als sie beide kaum siebzehn waren. Vielleicht wurde ihm nur beklommen ums Herz, als er, krank und schon sehr gealtert, sie jetzt schöner als damals und ruhig und füllig wiedersah.
    »Ich hätte sie nie wiedererkannt«, sagte er.
    Und der Landauer, der noch immer dahinrollte, bog jetzt in die Rue de Rome ein. Justine verschwand; diese Erscheinung aus der Vergangenheit, die sich so völlig gewandelt hatte, versank mit Thomas, den Kindern und dem Laden im unbestimmten Licht der Abenddämmerung.
    Auf der Souleiade war schon der Tisch gedeckt. Martine hatte einen Aal aus der Viorne, ein gebratenes Kaninchen und einen Rinderbraten aufgetragen. Es schlug sieben Uhr, man hatte noch genügend Zeit, in Ruhe zu Abend zu essen.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Doktor Pascal erneut zu seinem Neffen. »Wir begleiten dich zur Bahn, es sind keine zehn Minuten von hier … Da du ja deinen Koffer dort gelassen hast, brauchst du nur noch deine Fahrkarte zu lösen und einzusteigen.«
    Als er dann im Hausflur Clotilde sah, die dort ihren Hut und ihren Sonnenschirm aufhängte, sagte er leise:
    »Weißt du, dein Bruder macht mir Sorge.«
    »Wieso?«
    »Ich habe ihn genau beobachtet – die Art, wie er geht, gefällt mir nicht … Ich habe mich da noch nie getäuscht … der Junge ist von der Ataxie bedroht.«
    Sie wurde ganz blaß und wiederholte:
    »Von der Ataxie.«
    Ein grausames Bild stand ihr vor Augen, das Bild eines Nachbarn, jung noch, der seit zehn Jahren von einem Bedienten in einem kleinen Wagen gezogen werden mußte. War es nicht das schlimmste aller Übel, so gebrechlich zu sein, lebendig durch einen Axthieb vom Leben getrennt zu werden?
    »Aber er klagt doch nur über Rheumatismus«, murmelte sie.
    Pascal zuckte die Achseln; er legte einen Finger auf die Lippen und ging hinüber ins Eßzimmer, wo Félicité und Maxime bereits Platz genommen hatten.
    Das Abendessen verlief sehr freundschaftlich. Die plötzliche Besorgnis, die in Clotildes Herz erwacht war, stimmte sie zärtlich gegen ihren Bruder, der seinen Platz an ihrer Seite hatte. Fröhlich sorgte sie für ihn und zwang ihn, die besten Stücke zu nehmen. Zweimal rief sie Martine zurück, die die Schüsseln zu schnell weiterreichte. Und Maxime war mehr und mehr bezaubert von seiner so gütigen, so gesunden, so vernünftigen Schwester, deren Liebreiz ihm wie eine Liebkosung schien. Er war von ihr so hingerissen, daß ein zunächst noch unbestimmter Plan nach und nach festere Gestalt in ihm annahm. Sein Sohn, der kleine Charles, mit seiner Todesschönheit und seinem königlichen Ausdruck krankhafter Einfalt hatte ihn erschreckt, aber warum sollte er nicht seine Schwester Clotilde zu sich nehmen? Der Gedanke an eine Frau in seinem Hause entsetzte ihn, denn er fürchtete alle Frauen, seit er sie zu jung genossen hatte; doch diese schien ihm wirklich mütterlich zu sein. Eine ehrbare Frau in seinem Hause würde auch manches für ihn ändern und wäre von großem Vorteil. Zumindest würde sein Vater nicht mehr wagen, ihm Dirnen zu schicken, wie er es seiner Vermutung nach tat, um ihn zugrunde zu richten und jetzt schon in den Besitz seines Geldes zu gelangen. Die Angst und der Haß auf seinen Vater ließen Maxime einen Entschluß fassen.
    »Willst du denn nicht bald heiraten?« fragte er in der Absicht, die Lage zu erkunden.
    Das junge Mädchen begann zu lachen.
    »Oh, das hat keine Eile!« Und mit einem verschmitzten Blick auf Pascal, der den Kopf gehoben hatte, fügte sie hinzu: »Und weiß man˜s denn? Ich werde wohl niemals heiraten.«
    Doch Félicité erhob Einspruch. Wenn sie sah, wie sehr Clotilde an dem Doktor hing, wünschte sie oft eine Heirat, die das Mädchen von Pascal lösen würde und ihren Sohn vereinsamt zurückließe; dann wäre sie selber allmächtig in seinem verwüsteten Herzen und Herrin aller Dinge. Daher rief sie ihn zum Zeugen an. Stimmte es nicht, daß eine Frau heiraten sollte, daß es gegen die Natur war, eine alte Jungfer zu bleiben? Und in vollem Ernst gab Pascal ihr recht, ohne den Blick von Clotilde zu wenden.
    »Ja, gewiß, man muß heiraten … Und Clotilde ist so vernünftig, sie wird auch heiraten …«
    »Ach was!« unterbrach ihn Maxime. »Wird sie denn wirklich recht daran tun? Und wenn sie dann vielleicht unglücklich ist? Es gibt so viele schlechte Ehen!« Er faßte sich ein Herz und fuhr fort: »Weißt du, was du tun solltest? Du solltest zu mir nach Paris kommen … Ich habe es mir überlegt, es erschreckt mich ein wenig,

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