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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Altersschwäche hinzugekommen und hatte nach und nach ihre Muskeln verkümmern lassen. Ihr Fleisch wurde gleichsam vom Alter aufgezehrt, sie bestand nur noch aus Haut und Knochen, so daß man sie vom Bett zum Lehnstuhl tragen mußte. Und gleich einem gelblichen Skelett, das dort eingetrocknet war wie ein jahrhundertealter Baum, von dem nur noch die Borke übriggeblieben ist, saß sie dennoch aufrecht in ihrem Sessel; einzig die Augen in ihrem schmalen, langen Gesicht waren noch lebendig. Sie schaute Charles starr an.
    Clotilde war ein wenig zitternd näher getreten.
    »Tante Dide, wir sind es, wir wollen Euch besuchen … Erkennt Ihr mich denn nicht? Eure Enkelin, die Euch manchmal umarmen kommt.«
    Aber die Irre schien nicht zu hören. Sie ließ den Blick nicht von dem Kind, das mit seiner Schere ein Bild ausschnitt, einen purpurgekleideten König mit einem goldenen Mantel.
    »Hör mal, Mama«, sagte Macquart, »stell dich nicht dumm. Du kannst uns ruhig ansehen. Der Herr da ist ein Enkel von dir, der extra aus Paris gekommen ist.«
    Beim Klang dieser Stimme wandte Tante Dide schließlich den Kopf. Sie ließ ihre leeren, hellen Augen langsam über sie alle hingehen, dann richtete sie sie erneut auf Charles und versank wieder in ihre Betrachtung. Niemand sprach mehr ein Wort.
    »Seit dem schrecklichen Schock, den sie bekommen hat«, erklärte schließlich Pascal mit leiser Stimme, »ist sie so wie jetzt: aller Verstand, alle Erinnerung scheint in ihr ausgelöscht zu sein. Meistens schweigt sie; zuweilen bricht eine Flut undeutlich gestammelter Worte aus ihr hervor. Sie lacht, sie weint ohne Grund, sie ist ein Gegenstand, den nichts mehr berührt … Und doch würde ich nicht zu behaupten wagen, daß sie vollkommen umnachtet ist, daß in der Tiefe nicht noch Erinnerungen aufgespeichert sind … Ach, die arme alte Mutter, daß sie noch nicht völlig ausgelöscht ist, wie bedauere ich sie! Woran mag sie denken seit einundzwanzig Jahren, wenn sie sich erinnert?«
    Mit einer Handbewegung schob er diese furchtbare Vergangenheit, die er genau kannte, beiseite. Er sah sie wieder jung vor sich, ein großes, schmales, blasses Geschöpf mit verstörten Augen, sehr bald schon die Witwe Rougons, des schwerfälligen Gärtners, den sie zum Gatten hatte haben wollen. Noch vor dem Ende der Trauerzeit warf sie sich in die Arme des Schmugglers Macquart, den sie mit der Liebe einer Wölfin liebte und den sie nicht einmal heiratete. So lebte sie fünfzehn Jahre lang mit einem ehelichen Kind und zwei Bastarden inmitten von Lärm und Launenhaftigkeit, war oft wochenlang verschwunden und tauchte zerschunden, mit blauen Flecken auf den Armen, wieder auf. Dann kam Macquart durch einen Schuß ums Leben, wurde wie ein Hund von einem Gendarmen niedergeschossen; und durch diesen ersten Schock war sie erstarrt, hatte schon damals nichts Lebendiges mehr an sich als die wasserhellen Augen in dem bleichen Gesicht. Sie zog sich von der Welt zurück in das baufällige Haus, das ihr Liebhaber ihr hinterlassen hatte, führte dort vierzig Jahre lang das Leben einer Nonne und wurde immer wieder von entsetzlichen Nervenkrisen heimgesucht. Doch der zweite Schock sollte sie zugrunde richten, sie in den Wahnsinn stürzen, und Pascal rief sich die furchtbare Szene ins Gedächtnis zurück, denn er war dabeigewesen: einem armen Kind, das die Großmutter zu sich genommen hatte, ihrem Enkel Silvère, der das Opfer des Hasses und der blutigen Kämpfe der Familie geworden war, hatte wiederum ein Gendarm während der Niederwerfung der aufständischen Bewegung von 185125 mit einem Pistolenschuß den Kopf zerschmettert. Immer war sie mit Blut bespritzt.
    Félicité trat zu Charles heran, der so in seine Bilder vertieft war, daß ihn all diese Leute nicht störten.
    »Mein kleiner Liebling, dieser Herr da ist dein Vater … Geh und gib ihm einen Kuß.«
    Und nun befaßten sich alle mit Charles. Er war sehr hübsch gekleidet, Jacke und Hose aus schwarzem Samt, mit Goldtresse besetzt. In seiner lilienhaften Blässe glich er wirklich einem Sohn jener Könige, die er ausschnitt, mit seinen großen glanzlosen Augen und dem Geriesel seines blonden Haars. Doch in diesem Augenblick fiel besonders seine Ähnlichkeit mit Tante Dide auf, jene Ähnlichkeit, die drei Generationen übersprungen hatte, die von dem vertrockneten Gesicht, von den verbrauchten Zügen einer Hundertjährigen auf das zarte Kindergesicht übergegangen war, das ebenfalls schon wie ausgelöscht schien, sehr alt

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