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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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wiedererwacht wäre, Hoffnung und Lebensfreude. Sie blieben lange in der warmen Nacht unter den Platanen sitzen und lauschten dem feinen kristallenen Klang des Brunnens. Und sie sprachen kein Wort, sie genossen zutiefst das Glück, beisammen zu sein.
     

Kapitel IV
    Acht Tage später herrschte wieder Mißstimmung im Haus. Pascal und Clotilde schmollten von neuem ganze Nachmittage lang miteinander, und die Stimmung wechselte ständig ganz unvermittelt. Selbst Martine war gereizt. Das Leben zu dritt wurde zur Hölle.
    Dann verschlimmerte sich plötzlich alles noch mehr. Ein Kapuziner von großer Heiligkeit, wie sie häufig durch die Städte Frankreichs ziehen, war nach Plassans gekommen, um eine Reihe von Andachtsübungen abzuhalten. Die Kanzel von SaintSaturnin hallte wider vom Schall seiner Stimme. Er war eine Art Apostel mit einer volkstümlichen, flammenden Beredsamkeit und einer blumigen, bilderreichen Sprache. Und er predigte über die Nichtigkeit der modernen Wissenschaft mit einem außergewöhnlichen mystischen Gedankenflug, leugnete die Realität dieser Welt und öffnete die Tür zum Unbekannten, zum Mysterium des Jenseits. Alle Betschwestern der Stadt waren ganz aus dem Häuschen.
    Gleich am ersten Abend, an dem Clotilde in Begleitung von Martine der Predigt beiwohnte, bemerkte Pascal die fieberhafte Unruhe, in der sie nach Hause kam. An den folgenden Tagen war sie leidenschaftlich erregt und verspätete sich, weil sie immer erst noch eine Stunde im dunklen Winkel einer Kapelle im Gebet verbrachte. Sie verließ die Kirche kaum noch, kehrte erschöpft heim mit den leuchtenden Augen einer Seherin, und die glühenden Worte des Kapuziners verfolgten sie unablässig. Zorn und Verachtung für Menschen und Dinge schienen sie erfaßt zu haben.
    Pascal war beunruhigt und wollte eine Aussprache mit Martine herbeiführen. Er ging eines Morgens zu früher Stunde hinunter, als sie das Eßzimmer ausfegte.
    »Ihr wißt, daß ich Euch alle Freiheit lasse, mit Clotilde zur Kirche zu gehen, wenn es Euch gefällt. Ich will niemandes Gewissen belasten … Aber ich möchte nicht, daß Ihr mir Clotilde krank macht.«
    Ohne im Fegen innezuhalten, erwiderte das Dienstmädchen dumpf:
    »Vielleicht sind gerade die Leute krank, die es nicht zu sein glauben.«
    Sie hatte das mit so viel Überzeugung gesagt, daß er lächeln mußte.
    »Ja, ich bin der kranke Geist, dessen Bekehrung Ihr erfleht, während Ihr die ausgezeichnete Gesundheit und die vollkommene Weisheit besitzt … Martine, wenn Ihr mich weiter quält und Euch selber auch, so werde ich böse.«
    Er hatte mit so verzweifelter und so rauher Stimme gesprochen, daß Martine sogleich innehielt und ihm ins Gesicht blickte. Eine unendliche Zärtlichkeit, eine grenzenlose Trauer glitten über ihr verbrauchtes Gesicht einer alten Jungfer, die nur die klösterliche Strenge ihres Dienstes kannte. Und Tränen füllten ihre Augen, sie lief davon und stammelte:
    »Ach, Herr Doktor, Sie haben uns nicht gern!«
    Pascal war wie entwaffnet, und eine wachsende Traurigkeit befiel ihn. Seine Gewissensbisse wurden noch heftiger bei dem Gedanken, daß er sich duldsam gezeigt hatte, daß er Clotildes Erziehung und Ausbildung nicht als absoluter Herr und Meister gelenkt hatte. Im Glauben, daß die Bäume gerade wüchsen, wenn man sie nicht behinderte, hatte er ihr erlaubt, aufzuwachsen, wie es ihr gefiel, nachdem er sie nur lesen und schreiben gelehrt hatte. Ohne vorgefaßten Plan, einzig bedingt durch den normalen Verlauf ihres Lebens, hatte sie nach und nach alles gelesen und sich für die Naturwissenschaften begeistert, während sie ihm bei seinen Untersuchungen half, seine Entwürfe korrigierte, seine Manuskripte abschrieb und einordnete. Wie sehr bedauerte er heute seine Gleichgültigkeit! Welch straffe Führung hätte er diesem klaren, so wissensdurstigen Geist geben können, statt ihn auf Abwege geraten zu lassen, wo er sich in jenem Bedürfnis nach dem Jenseits verirrte, das die Großmutter Félicité und die gute Martine noch förderten! Während er sich an das Gegebene hielt und sich bemühte, niemals über die Erscheinung hinauszugehen, was ihm mit der Disziplin des Wissenschaftlers gelang, hatte er immer wieder gesehen, wie Clotilde sich mit dem Unbekannten, mit dem Mysterium beschäftigte. Das war bei ihr Besessenheit, eine instinktive Neugier, die schier zur Qual wurde, wenn sie nicht Befriedigung fand. Es war ein durch nichts zu stillendes Verlangen, ein unwiderstehlicher Drang nach

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