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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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du hast verwelken lassen! Du wirst dich noch krank machen. Außerhalb der Wirklichkeit ist weder Gesundheit noch gar Schönheit möglich.«
    Oft antwortete sie nicht einmal mehr, da sie, verrannt in eine wilde Überzeugung, sich auf keine Erörterung einlassen wollte. Doch diesmal hatte er den empfindlichen Punkt in ihren Anschauungen getroffen.
    »Es gibt keine Wirklichkeit«, erklärte sie rundweg.
    Er fing an zu lachen; diese philosophische Weisheit, die das große Kind da aussprach, amüsierte ihn.
    »Ja, ich weiß … Unsere Sinne sind fehlbar, wir erkennen die Welt nur durch unsere Sinne, also ist es möglich, daß die Welt nicht existiert … Öffnen wir also dem Irrsinn Tür und Tor, nehmen wir die albernsten Hirngespinste als möglich an, begeben wir uns in das Gebiet des Alptraums, außerhalb der Gesetze und Tatsachen … Aber siehst du denn nicht, daß es keine Ordnung mehr gibt, wenn du die Natur ausschaltest, und daß das einzige Interesse am Leben darin besteht, an das Leben zu glauben, es zu lieben und alle Kräfte seines Verstandes daranzusetzen, es besser kennenzulernen?«
    Sie machte eine unbekümmerte und zugleich trotzige Gebärde, und die Unterhaltung brach ab. Jetzt zog sie breite blaue Striche wie Säbelhiebe über das Papier und ließ die leuchtenden Pastellfarben aus dem Grunde einer klaren Sommernacht hervortreten.
    Doch zwei Tage später, nach einer erneuten Auseinandersetzung, verschlimmerten sich die Dinge noch mehr. Nach dem Abendessen war Pascal wieder in das große Zimmer hinaufgegangen, um zu arbeiten, während sie draußen auf der Terrasse sitzen blieb. Stunden vergingen, und als es Mitternacht schlug, war er sehr verwundert und beunruhigt, daß er sie nicht hatte heraufkommen hören. Sie mußte, wenn sie in ihr Zimmer wollte, durch das große Arbeitszimmer gehen, und er war ganz sicher, daß sie sich nicht hinter seinem Rücken an ihm vorbeigeschlichen hatte. Er ging hinunter und stellte fest, daß Martine schlief. Die Tür zum Hausflur war nicht abgeschlossen, Clotilde hatte sicher draußen Zeit und Stunde vergessen. Das geschah ihr zuweilen in warmen Nächten; aber niemals verspätete sie sich so sehr.
    Die Unruhe des Doktors wuchs, als er auf der Terrasse den Stuhl leer fand, auf dem das junge Mädchen lange Zeit gesessen haben mußte. Er hatte gehofft, sie dort schlafend zu finden. Wenn sie dort aber nicht mehr war, weshalb war sie dann nicht in ihr Zimmer gegangen? Wohin konnte sie zu so später Stunde noch gegangen sein? Die Nacht war wunderschön, eine Septembernacht, glühend heiß noch, mit einem unermeßlich weiten Himmel, von Sternen übersät, in seiner dunkelsamtenen Unendlichkeit; und auf dem Grunde dieses mondlosen Himmels leuchteten die Sterne so stark und so klar, daß sie die Erde erhellten. Pascal beugte sich über das Geländer der Terrasse und suchte mit den Augen die Hänge ab, die mörtellos gefügten steinernen Stufenabsätze, die bis zu den Bahngleisen hinunterführten; doch nichts regte sich, er sah nur die runden, unbeweglichen Kronen der Ölbäumchen. Dann kam ihm der Gedanke, daß sie gewiß unter den Platanen am Brunnen sei, in der ständigen Kühle dieses murmelnden Wassers. Er lief dorthin, drang ein in die tiefe Finsternis, die so dicht war, daß selbst er, der jeden Baumstamm kannte, mit vorgestreckten Händen gehen mußte, um sich nicht zu stoßen. Dann durchstreifte er auf gleiche Weise den Pinienhain, tastete umher, ohne jemanden zu finden. Und schließlich rief er mit gedämpfter Stimme:
    »Clotilde! Clotilde!«
    Die Nacht blieb unergründlich und stumm. Er rief lauter und lauter:
    »Clotilde! Clotilde!«
    Keine Seele, kein Hauch. Die Echos klangen verschlafen, sein Ruf verlor sich in dem unendlich sanften See der blauen Finsternis. Und er rief, so laut er konnte, er kehrte unter die Platanen zurück, eilte wieder in den Pinienhain, suchte in kopfloser Angst das ganze Besitztum ab. Plötzlich befand er sich auf der Tenne.
    Auch die riesige Tenne, das weite gepflasterte Rund, schlief zu dieser Stunde. In all den langen Jahren, da man hier kein Getreide mehr geschwungen hatte, war Gras darauf gewachsen, sogleich von der Sonne versengtes, vergoldetes und gleichsam geschorenes Gras, ähnlich der hohen Wolle eines Teppichs. Und zwischen den Büscheln dieses weichen Grases kühlten die runden Steine niemals ab, dampften in der Abenddämmerung, strahlten die Wärme, die sich an so vielen drückend heißen Mittagen in ihnen angesammelt hatte, in die

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