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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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… Und außerdem ist es nicht wahr, die Wissenschaft hat nicht das Glück versprochen.«
    Lebhaft unterbrach sie ihn.
    »Wie, nicht wahr? Schlag doch deine Bücher auf dort oben! Du weißt sehr wohl, daß ich sie gelesen habe. Sie fließen über von Versprechungen. Wenn man ihnen glauben wollte, sind wir schon dabei, die Erde und den Himmel zu erobern. Sie reißen alles nieder und schwören, alles zu ersetzen, und zwar durch die reine Vernunft, mit Gründlichkeit und Weisheit … Gewiß, ich bin wie ein Kind. Wenn man mir etwas versprochen hat, will ich es haben. Meine Phantasie arbeitet, der Gegenstand muß sehr schön sein, um mich zufriedenzustellen … Man hätte mir ja nichts zu versprechen brauchen! Aber jetzt, da mein schmerzliches Verlangen aufs höchste gesteigert ist, wäre es schlecht, zu sagen, daß man mir gar nichts versprochen hat.«
    Er machte abermals eine Gebärde des Widerspruchs in der erhabenen Nacht.
    »Auf jeden Fall«, fuhr sie fort, »hat die Wissenschaft reinen Tisch gemacht, die Erde ist nackt, der Himmel ist leer, und was soll nun aus mir werden, auch wenn du der Wissenschaft keine Schuld gibst an den Hoffnungen, die ich hege? Ohne Gewißheit und ohne Glück kann ich doch nicht leben. Auf welchem Grund soll ich mein Haus bauen, da man nun einmal die alte Welt zertrümmert hat und sich so wenig beeilt, die neue zu errichten? Das ganze alte Reich ist zusammengestürzt bei dieser Katastrophe der Untersuchung und der Analyse, und es bleibt nichts übrig als eine vor Angst kopflose Bevölkerung, die durch die Ruinen irrt und nicht weiß, auf welchen Stein sie ihr Haupt betten soll, die im Unwetter kampiert und nach der sicheren, endgültigen Zuflucht verlangt, wo sie das Leben von neuem beginnen kann … Man darf sich also über unsere Mutlosigkeit und unsere Ungeduld nicht wundern. Wir können nicht länger warten. Da die Wissenschaft zu langsam ist und Bankrott macht, flüchten wir uns lieber zurück in den Glauben von einst, der jahrhundertelang für das Glück der Welt ausgereicht hat.«
    »Ah, das ist es ja!« rief er. »Wir sind am Wendepunkt dieses Jahrhunderts angelangt, ermüdet, entnervt von der schrecklichen Masse von Kenntnissen, die es in Bewegung gesetzt hat … Und es ist das ewige Bedürfnis nach Lüge, nach Illusion, das die Menschheit quält und nach rückwärts zieht, zum einlullenden Zauber des Unbekannten … Wozu mehr wissen, wenn man niemals alles wissen kann? Da nun einmal die errungene Wahrheit kein unmittelbares, sicheres Glück gewährt, warum sich nicht mit der Unwissenheit zufriedengeben, jenem dunklen Lager, auf dem die Menschheit in ihren frühen Jahren in tiefem Schlaf lag? Ja, das ist die aggressive Rückkehr des Mysteriums, die Reaktion auf hundert Jahre experimenteller Untersuchung. So mußte es kommen, man muß auf Abtrünnigkeit gefaßt sein, wenn man nicht alle Bedürfnisse auf einmal befriedigen kann. Aber das ist nur ein Innehalten, der Weg nach vorn wird weitergehen, außerhalb unseres Blickfeldes, in der Unendlichkeit des Raumes.«
    Sie lagen beide still und schwiegen, ihre Blicke verloren sich in den Milliarden von Welten, die am dunklen Himmel glänzten. Eine Sternschnuppe zog ihre flammende Bahn durch das Sternbild der Kassiopeia. Und das strahlende Universum dort oben drehte sich in heiligem Glanze langsam um seine Achse, während von der dunklen Erde um sie her nur ein leichter Hauch aufstieg, der sanfte, warme Atem eines schlummernden Weibes.
    »Sag mir«, fragte er in seinem gutmütigen Ton, »ist es dein Kapuziner, der dir heute abend den Kopf verdreht hat?«
    Sie antwortete freimütig:
    »Ja, er sagt auf der Kanzel Dinge, die mich ganz wirr machen, er wettert gegen alles, was du mich gelehrt hast, und es ist, als ob sich alles Wissen, das ich dir verdanke, in Gift verwandelt und mich zugrunde richtet … Mein Gott, was soll aus mir werden?«
    »Mein armes Kind! Wie schrecklich, dich so zu zerfleischen! Und trotzdem bin ich noch ganz ruhig, was dich angeht, denn du bist eine ausgeglichene Natur, du hast ein hübsches kleines klares festes rundes Köpfchen, wie ich dir schon oft gesagt habe. Du wirst wieder zur Ruhe kommen … Aber welche Verheerung muß in den Hirnen angerichtet werden, wenn schon ein so gesundes Mädchen wie du ganz durcheinander ist! Hast du denn keinen Glauben?«
    Sie schwieg und seufzte, während er hinzufügte:
    »Denn wenn du es nur unter dem Gesichtspunkt des Glücks betrachtest, ist der Glaube ein verläßlicher

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