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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Nacht aus.
    Nackt und verlassen rundete sich die Tenne in diesem Erschauern unter dem stillen Himmel, und Pascal eilte darüber hin, dem Obstgarten zu, als er beinahe über einen lang ausgestreckten Körper gestürzt wäre, den er nicht hatte sehen können. Fassungslos rief er aus:
    »Wie, hier bist du?«
    Clotilde würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Sie lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Nacken verschränkt, das Gesicht dem Himmel zugewandt, und in ihrem blassen Antlitz sah man nur ihre großen Augen leuchten.
    »Und ich sorge mich und rufe dich seit einer Viertelstunde! Du mußt mich doch gehört haben?«
    Endlich öffnete sie den Mund.
    »Ja.«
    »Siehst du, so ein Irrsinn! Warum hast du denn nicht geantwortet?«
    Doch sie war wieder in ihr Schweigen versunken. Starrköpfig, den Blick zum Himmel emporgerichtet, verweigerte sie ihm jede Erklärung.
    »Komm jetzt, ins Bett mit dir, du böses Kind! Morgen wirst du mir alles erzählen.«
    Sie rührte sich noch immer nicht. Er bat sie zehnmal, hineinzugehen, ohne daß sie auch nur eine Bewegung machte. Schließlich setzte er sich neben sie in das niedrige Gras, und er spürte unter sich die Wärme der Steine.
    »Du kannst doch nicht draußen schlafen … Antworte mir wenigstens. Was tust du hier?«
    »Ich schaue.«
    Und aus ihren weitgeöffneten, starren, unbeweglichen großen Augen schienen sich ihre Blicke noch höher zu erheben, bis hinauf zu den Sternen. Sie war ganz in die reine Unendlichkeit dieses Sommerhimmels entrückt, mitten unter die Gestirne.
    »Ach, Meister«, sagte sie mit langsamer, gleichmäßiger, stetiger Stimme, »wie eng und beschränkt ist doch alles, was du weißt, im Vergleich zu dem, was es sicherlich dort oben gibt … Ja, ich habe dir nur deshalb nicht geantwortet, weil ich an dich denken mußte und weil ich großen Kummer hatte … Glaub mir, ich bin nicht böse.«
    In ihrer Stimme lag eine so bebende Zärtlichkeit, daß er davon zutiefst gerührt war. Er legte sich neben ihr auf den Rücken. Ihre Ellbogen berührten sich. Sie sprachen miteinander.
    »Ich fürchte sehr, mein Kind, daß deine Kümmernisse unvernünftig sind … Du denkst an mich, und du hast Kummer. Warum eigentlich?«
    »Oh, es gibt da gewisse Dinge, die ich dir nur schwer erklären kann. Ich bin keine Gelehrte. Doch du hast mich viel gelehrt, und ich habe selber noch dazugelernt im Zusammenleben mit dir. Außerdem sind es Dinge, die ich fühle … Vielleicht versuche ich doch, es dir zu sagen, da wir nun einmal so allein hier sind und es so schön ist!«
    Ihr volles Herz strömte über nach den Stunden des Nachsinnens im vertraulichen Frieden der wunderbaren Nacht. Pascal schwieg, aus Furcht, sie zu beunruhigen.
    »Als ich klein war und dich von der Wissenschaft reden hörte, schien es mir, als sprächest du vom lieben Gott, so glühtest du voll Hoffnung und Glauben. Nichts schien dir mehr unmöglich. Mit der Wissenschaft würde man das Geheimnis der Welt ergründen und das vollkommene Glück der Menschheit verwirklichen … Nach deiner Ansicht ging es mit Riesenschritten voran. Jeder Tag brachte eine neue Entdeckung, eine neue Gewißheit. Noch zehn Jahre, noch fünfzig Jahre, noch hundert Jahre vielleicht, und der Himmel würde sich auftun, wir würden die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht schauen … Nun ja, die Jahre gehen dahin, und nichts tut sich auf, und die Wahrheit weicht zurück.«
    »Du bist ein ungeduldiges Wesen«, erwiderte er nur. »Und wenn zehn Jahrhunderte notwendig sind, so muß man sie schon abwarten.«
    »Es ist wahr, ich kann nicht warten. Ich will wissen, ich will auf der Stelle glücklich sein. Und ich will alles auf einmal wissen und für alle Zeit vollkommen glücklich sein! Siehst du, darunter leide ich, daß ich nicht mit einem Sprung zur umfassenden Erkenntnis gelange, daß ich nicht in der vollkommenen Glückseligkeit ausruhen kann, frei von Bedenken und Zweifeln. Willst du es denn leben nennen, mit solch langsamen Schritten in die Finsternis vorzudringen, nicht eine Stunde der Ruhe genießen zu können, ohne bei dem Gedanken an die nächste Angst zu zittern? Nein, nein, die ganze Erkenntnis und das ganze Glück an einem Tag! Die Wissenschaft hat es uns so versprochen, und wenn sie es uns nicht gibt, macht sie Bankrott.«
    Jetzt begann auch er sich zu erregen.
    »Aber das ist doch Wahnsinn, Mädchen, was du da sagst! Die Wissenschaft ist nicht die Offenbarung. Sie geht ihren menschlichen Gang, ihr Ruhm liegt in ihrer Bemühung

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