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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Wanderstab, und man lebt bequemer und ruhiger, wenn man ihn besitzt.«
    »Ach, ich weiß nicht!« sagte sie. »Es gibt Tage, an denen ich glaube, und andere wieder, an denen ich zu dir und deinen Büchern stehe. Du bist es, der mich durcheinandergebracht hat, durch dich leide ich. Und darin besteht vielleicht mein ganzes Leiden: in meiner Auflehnung gegen dich, den ich liebe … Nein, nein, sage mir nichts! Sage nicht, daß ich wieder zur Ruhe kommen werde. Das würde mich in diesem Augenblick nur noch mehr aufbringen … Du leugnest das Übernatürliche. Das Mysterium, sagst du, ist weiter nichts als das Unerklärte. Du gibst sogar zu, daß man niemals alles wissen wird, und infolgedessen besteht das einzige Interesse am Leben in der nicht endenden Eroberung des Unbekannten, in dem ewigen Bemühen, mehr zu wissen … Ach! Ich weiß schon zuviel davon, um noch glauben zu können, du hast mich schon allzusehr erobert, und es gibt Stunden, wo es mir scheinen will, daß ich daran sterben werde.«
    Er hatte in dem warmen Gras ihre Hand ergriffen und drückte sie heftig.
    »Das Leben, mein liebes Kind, das macht dir angst! Und wie recht hast du zu sagen, daß das einzige Glück das immerwährende Bemühen sei! Denn nun ist kein Ausruhen in der Unwissenheit mehr möglich. Kein Verweilen ist zu erhoffen, keine Ruhe in der freiwilligen Blindheit. Man muß vorwärtsschreiten, trotz allem vorwärtsschreiten mit dem Leben, das selber immer vorwärtsschreitet. Alles andere, jede Rückkehr zum Vergangenen, die toten Religionen und die zurechtgezimmerten, den neuen Bedürfnissen angepaßten Religionen, das alles ist Betrug … Erkenne doch das Leben, liebe es, lebe es so, wie es gelebt werden muß: es gibt keine andere Weisheit.«
    Mit einem Ruck hatte sie ihm gereizt ihre Hand entzogen. Und ihre bebende Stimme drückte Widerwillen aus.
    »Das Leben ist abscheulich, wie soll ich es ruhig und glücklich leben? Deine Wissenschaft wirft eine entsetzliche Helle über die Welt, deine Analyse dringt in all unsere menschlichen Wunden ein, um ihre Schrecken zur Schau zu stellen. Du sagst alles, du beschönigst nichts, du läßt uns nur den Ekel vor den Wesen und den Dingen, ohne jeden möglichen Trost.«
    Er unterbrach sie mit einem Ausruf glühender Überzeugung.
    »Alles sagen, ja, um alles zu erkennen und alles zu heilen!«
    Der Zorn ließ sie hochfahren, sie setzte sich hin.
    »Wenn es in deiner Natur wenigstens noch Gleichheit und Gerechtigkeit gäbe! Aber du gibst es selber zu, das Leben gehört dem Stärksten, der Schwache geht unweigerlich zugrunde, weil er schwach ist. Es gibt nicht zwei Wesen, die einander gleich sind, weder an Gesundheit noch an Schönheit noch an Verstand: alles hängt ab vom glücklichen Zusammentreffen, vom Zufall der Wahl … Und alles bricht zusammen, sowie die große und heilige Gerechtigkeit nicht mehr existiert!«
    »Das ist wahr«, sagte er halblaut wie zu sich selbst, »es gibt keine Gleichheit. Eine Gesellschaft, die man darauf gründen wollte, könnte nicht leben. Jahrhundertelang hat man geglaubt, man könnte das Böse durch Nächstenliebe heilen. Doch die Welt ist zusammengestürzt, und heute bietet man die Gerechtigkeit an … Ist die Natur gerecht? Ich halte sie eher für logisch. Und vielleicht ist die Logik eine natürliche, höhere Gerechtigkeit, die direkt auf die Summe der gemeinsamen Arbeit zusteuert, auf das große letzte Werk.«
    »Ja, nicht wahr«, rief sie aus, »eine Gerechtigkeit, die das Individuum zermalmt zum Besten der Rasse, die die geschwächte Art zugrunde richtet, um die siegreiche zu mästen … Nein, nein, das ist ein Verbrechen! Das ist nichts anderes als Gemeinheit und Mord. Er hatte recht heute abend in der Kirche: die Erde ist verdorben, die Wissenschaft stellt nur ihre Fäulnis zur Schau, dort droben müssen wir unsere Zuflucht suchen … Oh, Meister, ich flehe dich an, laß mich meine Rettung finden, laß mich auch dich retten!«
    Sie war in Tränen ausgebrochen, und ihr Schluchzen stieg verzweifelt in die Reinheit der Nacht empor. Vergebens versuchte er, sie zu beruhigen, sie übertönte seine Stimme.
    »Hör zu, Meister, du weißt, daß ich dich liebe, denn du bist mein ein und alles … Aber von dir kommt auch meine Qual, und ich muß vor Kummer schier ersticken, wenn ich daran denke, daß wir nicht eines Sinnes sind, daß wir für immer getrennt wären, wenn wir morgen beide sterben müßten … Warum willst du nicht glauben?«
    Er versuchte wiederum, sie zur

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