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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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dem Unerreichbaren, Unerkennbaren. Schon als sie klein war, und später vor allem, als junges Mädchen, ging sie sofort auf das Warum und auf das Wie los, verlangte sie die letzten Gründe zu wissen. Zeigte er ihr eine Blume, so fragte sie ihn, warum diese Blume ein Samenkorn hervorbringe, warum dieses Samenkorn keime. Dann war es das Mysterium der Empfängnis, der Geschlechter, der Geburt und des Todes, und die unbekannten Kräfte, und Gott, und alles. Mit vier Fragen trieb sie ihn jedesmal in die Enge, so daß er seine verhängnisvolle Unwissenheit bekennen mußte; und wenn er nicht mehr wußte, was er antworten sollte, wenn er sich mit einer hilflosen Gebärde des Zorns von ihr losmachte, dann lachte sie ein schönes triumphierendes Lachen und kehrte frohlockend zu ihren Träumen zurück, zur grenzenlosen Vision alles dessen, was man nicht kennt, und alles dessen, was man glauben kann. Oft verblüffte sie ihn durch ihre Erklärungen. Ihr mit wissenschaftlichen Kenntnissen gefütterter Geist ging zwar von den bewiesenen Wahrheiten aus, vollführte dann aber einen solchen Sprung, daß sie gleich im Himmel der Legenden landete. Mittler kamen ins Spiel, Engel, Heilige, übernatürliche Eingebungen, welche die Materie veränderten und ihr Leben verliehen; oder es war auch wieder nur ein und dieselbe Kraft, die Weltseele, die bewirkte, daß die Dinge und Wesen nach fünfzig Jahrhunderten schließlich in einem Liebeskuß miteinander verschmolzen. Sie habe es ausgerechnet, sagte sie.
    Übrigens hatte Pascal sie niemals so verstört gesehen. Seit einer Woche, seit sie die Andachtsübungen des Kapuziners in der Kathedrale regelmäßig besuchte, verbrachte sie die Tage ungeduldig in der Erwartung der abendlichen Predigt; und sie begab sich dorthin mit der überspannten inneren Sammlung eines Mädchens, das zu einem ersten Stelldichein geht. Am nächsten Tage dann hatte sie sich ganz vom äußeren Leben, von ihrem gewohnten Dasein gelöst, als wären die sichtbare Welt, die in jeder Minute notwendigen Tätigkeiten nur Betrug und Dummheit. Daher verzichtete sie fast völlig auf jede Beschäftigung, gab einer Art unüberwindlicher Trägheit nach und saß stundenlang da, die Hände im Schoß, mit leerem, verlorenem, in irgendeine Traumferne gerichtetem Blick. Sie, die sonst so aktiv war und so früh auf den Beinen, stand jetzt spät auf, erschien erst zum zweiten Frühstück; und diese langen Stunden brachte sie nicht mit ihrer Toilette zu, denn sie verlor ihre weibliche Eitelkeit, lief kaum gekämmt, in unordentlichem Aufzug mit falsch zugeknöpftem Kleid herum, war aber dennoch anbetungswürdig dank ihrer triumphierenden Jugend. Ihre Morgenspaziergänge durch die Souleiade, die sie so sehr liebte, das Promenieren über die mit Öl und Mandelbäumen bepflanzten Terrassen, ihre Besuche in dem balsamisch nach Harz duftenden Pinienhain, ihre langen Sonnenbäder auf der glühendheißen Tenne, dies alles hatte sie nun aufgegeben und blieb lieber, ohne sich zu rühren, bei geschlossenen Läden in ihrem Zimmer eingeschlossen. Am Nachmittag in dem großen Arbeitszimmer überließ sie sich dann einem lustlosen Müßiggang, einer von Stuhl zu Stuhl geschleppten Untätigkeit, einer Müdigkeit, einer Gereiztheit gegenüber allem, was sie bis dahin interessiert hatte.
    Pascal mußte auf ihre Hilfe verzichten. Eine Notiz, die er ihr zur Reinschrift gegeben hatte, blieb drei Tage auf ihrem Pult liegen. Sie ordnete nichts mehr ein, hätte sich nicht einmal gebückt, um ein Manuskript vom Boden aufzuheben. Vor allem hatte sie die Pastellmalerei aufgegeben, die sehr genau ausgeführten Blumenzeichnungen, die als Tafeln für ein Werk über die künstliche Befruchtung dienen sollten. Große rote Malven, die eine neue, eigentümliche Färbung aufwiesen, waren in ihrer Vase verwelkt, ohne daß sie sie zu Ende abgezeichnet hatte. Und einen ganzen Nachmittag lang beschäftigte sie sich wieder leidenschaftlich mit einer irren Malerei, Traumblumen, einer außergewöhnlichen Blütenpracht, die sich in der Sonne des Wunders entfaltete: ährenförmige goldene Strahlen entsprangen weiten purpurnen Blütenkronen, die geöffneten Herzen glichen und aus denen anstelle von Staubfäden Sternraketen emporstiegen, Milliarden von Welten, die gleich einer Milchstraße am Himmel dahinflossen.
    »Ach, mein armes Mädchen«, sagte an jenem Tage der Doktor zu ihr, »wie kann man seine Zeit mit solchen Phantastereien vergeuden! Und ich warte auf die Kopie der Malven, die

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