Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
aufgerichtet, stumm und bleich, sagte er:
    »Hör zu, ich habe dir immer verboten, diese Papiere zu lesen, und ich weiß, du hast mir gehorcht … Ja, ich hatte Bedenken. Nicht, daß du wie andere ein unwissendes Mädchen wärest, denn ich habe dich alles über Mann und Weib lernen lassen, und das ist gewiß nur für die schlechten Naturen schlecht … Allein wozu dich allzufrüh auf diese schreckliche menschliche Wahrheit stoßen? Ich habe dich darum mit der Geschichte unserer Familie verschont, die die Geschichte aller Familien, die Geschichte der gesamten Menschheit ist: viel Schlechtes und viel Gutes …«
    Er hielt inne, er schien in seinem Entschluß bestärkt und war jetzt wieder ruhig und von überlegener Festigkeit.
    »Du bist fünfundzwanzig Jahre alt, du sollst es jetzt erfahren … Und außerdem können wir so nicht weiterleben, mit deinem verstiegenen Traum machst du unser beider Leben zu einem Alpdruck. Lieber will ich, daß die Wirklichkeit, so abscheulich sie auch sein mag, sich vor uns ausbreitet. Vielleicht wird der Schlag, den sie dir versetzt, eine Frau aus dir machen, so, wie du eine sein sollst … Wir werden diese Akten gemeinsam wieder einordnen, sie durchblättern und lesen, eine schreckliche Lektion des Lebens!«
    Und da sie sich noch immer nicht rührte, fuhr er fort:
    »Wir brauchen helles Licht, zünde die beiden Kerzen an, die dort stehen.«
    Ein Verlangen nach großer Helligkeit hatte ihn ergriffen, am liebsten wäre ihm das blendende Licht der Sonne gewesen; die drei Kerzen waren ihm nicht hell genug, deshalb ging er hinüber in sein Zimmer und holte die zweiarmigen Leuchter, die dort standen. Nun brannten sieben Kerzen. Aber so verwüstet sie waren, er mit entblößter Brust, sie mit nacktem Busen und nackten Armen, die linke Schulter blutbefleckt, sie sahen einander gar nicht. Es schlug zwei Uhr, doch keiner von beiden achtete der Stunde: sie würden die Nacht verbringen in dem leidenschaftlichen Verlangen, alles zu wissen, ohne Bedürfnis nach Schlaf, außerhalb von Zeit und Raum. Das Gewitter, das am Horizont des offenen Fensters andauerte, grollte lauter.
    Niemals hatte Clotilde an Pascal diese fiebrig glühenden Augen gesehen. Er überanstrengte sich seit einigen Wochen; in seiner seelischen Angst war er zuweilen schroff, trotz seiner so versöhnlichen Güte. Doch in dem Augenblick, da er in die schmerzlichen Wahrheiten des Daseins hinabtauchte, schien eine von brüderlichem Mitleid bebende unendliche Zärtlichkeit in ihm zu erwachen; und es ging so viel Nachsicht und Größe von ihm aus, daß sie das erschreckende Debakel der Fakten vor dem jungen Mädchen milderten. Er hatte den festen Willen, alles zu sagen, da man alles sagen muß, um alles zu heilen. War nicht die Geschichte dieser Wesen, die ihnen so nahe standen, eine schicksalhafte Entwicklung, der höchste Beweis? So war das Leben, und man mußte es leben. Gewiß würde Clotilde gestählt daraus hervorgehen, voll Duldsamkeit und Mut.
    »Man hetzt dich gegen mich auf«, sagte er, »man treibt dich zu schändlichen Handlungen, und ich will dir dein Gewissen zurückgeben. Wenn du erst alles weißt, sollst du urteilen und handeln … Komm her und lies mit mir.«
    Sie gehorchte. Diese Akten jedoch, von denen ihre Großmutter mit soviel Zorn sprach, erschreckten sie ein wenig, während zugleich ihre Neugier erwachte und immer größer wurde. Sosehr sie auch unter dem Eindruck der männlichen Autorität stand, von der sie bezwungen und zerbrochen worden war, sie blieb zurückhaltend. Durfte sie ihn nicht anhören, mit ihm lesen? Behielt sie nicht das Recht, sich hinterher für oder gegen ihn zu entscheiden? Sie wartete ab.
    »Also willst du?«
    »Ja, Meister, ich will!«
    Zunächst zeigte er ihr den Stammbaum der RougonMacquart. Er verschloß ihn für gewöhnlich nicht in dem Schrank, sondern bewahrte ihn im Sekretär seines Zimmers auf; von dort hatte er ihn mitgebracht, als er die Leuchter holte. Seit mehr als zwanzig Jahren hielt er ihn auf dem neuesten Stand, trug die Geburten und die Todesfälle ein, die Eheschließungen, die wichtigen Familienereignisse, und kennzeichnete entsprechend seiner Vererbungstheorie mit kurzen Notizen den jeweiligen Fall. Es war ein großes, vom vielen Gebrauch in den Kniffen zerschlissenes Blatt vergilbten Papiers, auf dem sich, mit kräftigen Strichen gezeichnet, ein symbolischer Baum erhob, auf dessen ausgebreiteten, unterteilten Ästen fünf Reihen großer Blätter angeordnet waren; und

Weitere Kostenlose Bücher