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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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scheint.«
    Schweigen trat ein. Clotilde hatte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, denn sie wollte begreifen. Und er war jetzt ganz in sein Thema vertieft; noch immer den Baum vor Augen, war er erfüllt von dem Verlangen, sein Werk objektiv zu beurteilen. Langsam fuhr er fort, als spräche er zu sich selbst:
    »Ja, das ist so wissenschaftlich wie nur möglich … Ich habe hier nur die Mitglieder der Familie eingetragen, und ich hätte den Ehegatten, den Vätern und Müttern, die von außerhalb hinzugekommen sind, deren Blut sich mit unserem Blut gemischt und unser Blut verändert hat, einen gleichen Platz einräumen müssen. Ich hatte auch einen mathematischen Stammbaum entworfen, bei dem Vater und Mutter von Generation zu Generation ihre Erbanlage jeweils zur Hälfte an das Kind weitergeben, so daß bei Charles zum Beispiel der Anteil von Tante Dide nur noch ein Zwölftel betrüge – was unsinnig wäre, da ja hier die physische Ähnlichkeit vollkommen ist. Ich hielt es deshalb für ausreichend, die von außerhalb hinzugekommenen Elemente zu vermerken, wobei ich die Eheschließungen und den neuen Faktor, den sie jeweils hineinbrachten, berücksichtigte … Ach, diese beginnenden Wissenschaften, diese Wissenschaften, in denen die Hypothese stammelt und die Phantasie sich noch frei entfalten kann, sie sind ebensosehr der Bereich der Dichter wie der Wissenschaftler! Die Dichter marschieren als Bahnbrecher in der Vorhut, und oft entdecken sie jungfräuliches Land, weisen auf kommende Lösungen hin. Sie haben da einen Spielraum zwischen der schon errungenen, endgültigen Wahrheit und dem Unbekannten, dem man die Wahrheit von morgen entreißen wird … Welch ungeheures Fresko gäbe es zu malen, welch gewaltige menschliche Komödie und Tragödie gäbe es zu schreiben über die Vererbung, die die eigentliche Genesis der Familien, der Gesellschaften und der Welt ist!«
    Den Blick ins Unbestimmte gerichtet, verfolgte er seinen Gedanken und verlor sich darin. Doch mit einer unvermittelten Bewegung wandte er sich wieder den Akten zu, warf den Stammbaum beiseite und sagte:
    »Wir nehmen ihn nachher wieder vor, denn damit du jetzt verstehst, müssen die Ereignisse abrollen; du mußt sie in Aktion sehen, alle diese Akteure, die da mit einfachen, kurz resümierenden Notizen gekennzeichnet sind … Ich nenne die Akten, du reichst sie mir eine nach der anderen, und ich zeige dir, ich erzähle dir, was eine jede enthält, bevor du sie wieder dort oben auf das Brett zurückstellst … Ich gehe nicht nach der alphabetischen Reihenfolge vor, sondern nach dem zeitlichen Ablauf der Ereignisse. Seit langem schon will ich diese Anordnung vornehmen … Nun also, such die Namen auf den Aktendeckeln. Zuerst Tante Dide.«
    In diesem Augenblick erfaßte ein Ausläufer des Gewitters, das den Horizont in Brand setzte, die Souleiade und entlud sich in einem Wolkenbruch über dem Haus. Doch sie schlossen nicht einmal das Fenster. Sie hörten weder die Donnerschläge noch das ununterbrochene Rauschen dieser Sintflut, die auf das Dach prasselte. Clotilde hatte Pascal das Aktenstück gereicht, das in großen Buchstaben den Namen Tante Dides trug, und er zog daraus alle möglichen Papiere hervor, alte Aufzeichnungen, die er gemacht hatte und die er jetzt zu lesen begann.
    »Gib mir Pierre Rougon … Gib mir Ursule Macquart … Gib mir Antoine Macquart …«
    Stumm gehorchte sie jedesmal, das Herz schwer von Angst bei allem, was sie vernahm. Und die Akten marschierten auf, breiteten ihre Dokumente aus und wanderten dann in den Schrank zurück, wo sie sich stapelten.
    Da waren zunächst die Anfänge, Adelaide Fouque, das verrückte große Mädchen, der erste Fall nervlicher Schädigung; sie brachte den legitimen Zweig, Pierre Rougon, und die beiden Bastardzweige, Ursule und Antoine Macquart, hervor; dann die ganze blutige bürgerliche Tragödie im Zusammenhang mit dem Staatsstreich vom Dezember 1851, Pierre und Félicité Rougon, die die Ordnung in Plassans retteten und mit dem Blut Silvères ihr beginnendes Glück besudelten, während die alt gewordene Adelaide, die beklagenswerte Tante Dide, in Les Tulettes eingesperrt wurde gleich einer gespenstischen Symbolgestalt der Sühne und der Erwartung. Danach war die Meute der Begierden losgelassen, die ungehemmte Gier nach Macht bei Eugène Rougon, dem großen Mann, dem Adler der Familie, der verachtungsvoll, frei von vulgären Interessen, die Macht um der Macht willen liebte, der mit den Abenteurern

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