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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Stunde mehr ließen. Das hätten sie gelobt, man werde ihn mit dem lieben Gott aussöhnen, denn es sei nicht möglich, daß ein heiliger Mann wie der Doktor ohne Religion bleibe. Und die Stimmen der beiden Frauen wurden leiser, waren bald nur noch ein Flüstern, ein gedämpftes Gemurmel des Klatsches und der Verschwörung, in dem er nur vereinzelte Wörter auffing, Befehle, die erteilt, Maßnahmen, die getroffen wurden, ein Anschlag auf die Freiheit seiner Person. Als seine Mutter endlich ging, sah er, wie sie sich mit ihrem leichten Schritt und ihrer mädchenhaft schlanken Gestalt sehr befriedigt entfernte.
    Pascal durchlebte eine Stunde der Schwäche, der völligen Verzweiflung. Er fragte sich, wozu er noch kämpfen sollte, da ja alle, die er liebte, sich gegen ihn verbündeten. Diese Martine, die auf ein bloßes Wort von ihm für ihn durchs Feuer gegangen wäre und die ihn jetzt solchermaßen um seines Seelenheils willen verriet! Und Clotilde, die mit diesem Dienstmädchen im Bunde war, insgeheim Ränke schmiedete und sich von ihr helfen ließ, ihm Fallen zu stellen! Jetzt war er ganz allein, nur von Verräterinnen umgeben; man vergiftete sogar die Luft, die er atmete. Clotilde und Martine liebten ihn wenigstens noch, es wäre ihm vielleicht gelungen, sie zu erweichen; doch seit er wußte, daß seine Mutter hinter ihnen stand, konnte er sich ihre Hartnäckigkeit erklären und hoffte nicht mehr, sie zurückzugewinnen. In seiner Schüchternheit eines Mannes, der nur dem Studium gelebt und sich den Frauen trotz seiner Leidenschaftlichkeit ferngehalten hatte, entmutigte ihn der Gedanke, daß es drei waren, die sich seiner bemächtigen, die ihn unter ihren Willen zwingen wollten. Er hatte immer das Gefühl, eine von ihnen stünde hinter ihm; wenn er sich in seinem Zimmer einschloß, so ahnte er sie an der anderen Seite der Wand; und sie ließen ihn nicht zur Ruhe kommen, hielten in ihm die ständige Furcht lebendig, daß er seines Gedankenguts beraubt werde, wenn er es in der Tiefe seines Hirns erkennen ließe, noch ehe er es in Worte gefaßt hatte.
    Das war sicherlich die Zeit seines Lebens, in der Pascal sich am unglücklichsten fühlte. Der fortwährende Verteidigungszustand, in dem er leben mußte, zermürbte ihn; und es schien ihm zuweilen, als entglitte ihm der Boden seines Hauses unter den Füßen. Er bedauerte dann ganz entschieden, daß er nicht geheiratet und keine Kinder hatte. Hatte er selber denn Angst vor dem Leben gehabt? Wurde er nicht für seinen Egoismus gestraft? Das Bedauern, kein Kind zu haben, quälte ihn häufig, und er hatte jetzt tränenfeuchte Augen, wenn er auf den Straßen kleinen Mädchen mit hellen Blicken begegnete, die ihm zulächelten. Gewiß, er hatte Clotilde, doch das war eine andere Liebe, durch die jetzt Stürme tobten, nicht die ruhige, unendlich sanfte Kindesliebe, in der er sein schmerzgepeinigtes Herz hätte zur Ruhe bringen wollen. Außerdem ging es ihm jetzt, da er das Ende seines Seins nahen fühlte, vor allem um das Fortbestehen, um das Kind, in dem er weiterleben würde. Je mehr er litt, um so mehr hätte er in seinem Glauben an das Leben einen Trost darin gefunden, dieses Leiden zu vererben. Er glaubte sich frei von den physiologischen Makeln der Familie; doch selbst der Gedanke, daß die Vererbung zuweilen eine Generation übersprang und daß bei einem von ihm gezeugten Sohn die Fehler der Vorfahren wieder auftreten könnten, hielt ihn nicht von seinem Wunsche ab; trotz des alten, verfaulten Stammes, trotz der langen Reihe abscheulicher Verwandter ersehnte er an manchen Tagen noch immer diesen Sohn, wie man den unverhofften Gewinn ersehnt, das seltene Glück, den glücklichen Zufall, der einen für immer tröstet und reich macht. Da er seine anderen Bindungen erschüttert sah, blutete ihm das Herz, denn es war zu spät.
    In einer schwülen Nacht gegen Ende September konnte Pascal nicht schlafen. Er öffnete ein Fenster seines Zimmers, der Himmel war schwarz, in der Ferne zog vermutlich ein Gewitter vorüber, denn man hörte ständiges Donnergrollen. Nur undeutlich konnte er die düstere Masse der Platanen erkennen, die der Widerschein der Blitze für Augenblicke in düsterem Grün aus der Finsternis hervortreten ließ. Und seine Seele war erfüllt von furchtbarer Verzweiflung, er durchlebte noch einmal die letzten schlimmen Tage, die immer neuen Streitigkeiten, die immer größer werdenden Qualen des Verrats und des Argwohns – da ließ ihn plötzlich ein stechendes

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