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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Gefühl zusammenfahren. In seiner Angst, ausgeplündert zu werden, hatte er in letzter Zeit den Schlüssel zum großen Schrank immer bei sich getragen. Doch an diesem Nachmittag hatte er, da er unter der Hitze litt, seine Jacke ausgezogen, und er erinnerte sich, gesehen zu haben, wie Clotilde sie im großen Arbeitszimmer an einen Nagel hängte. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn: wenn sie den Schlüssel in der Tasche gefühlt hatte, dann hatte sie ihn entwendet. Er stürzte zu der Jacke hin, die er auf einen Stuhl geworfen hatte, und durchwühlte sie. Der Schlüssel war nicht mehr da. In ebendiesem Augenblick bestahl man ihn, das fühlte er ganz deutlich. Es schlug zwei Uhr. Er zog sich nicht erst wieder an; nur mit der Hose bekleidet, die bloßen Füße in Pantoffeln, mit nackter Brust unter seinem offenen Nachthemd, stieß er ungestüm die Tür auf und stürzte, seinen Leuchter in der Hand, in das große Arbeitszimmer.
    »Ah! Ich wußte es!« rief er. »Diebin! Mörderin!«
    Und wirklich, Clotilde war da, ebenso notdürftig bekleidet wie er, mit nackten Füßen in ihren Leinwandschuhen, mit nackten Beinen, nackten Armen, nackten Schultern, kaum bedeckt von einem kurzen Unterrock und ihrem Hemd. Aus Vorsicht hatte sie kein Licht mitgenommen, sie hatte nur die Läden des einen Fensters zurückgeschlagen; das Gewitter, das unten im Süden über den düsteren Himmel zog, die fortwährenden Blitze tauchten die Gegenstände in fahles, wechselndes Licht, so daß sie genug sehen konnte. Der alte Schrank mit den breiten Flanken stand weit offen. Schon hatte sie das oberste Brett leer gemacht, hatte die Akten gleich armeweise heruntergenommen und auf den langen Tisch in der Mitte geworfen, wo sie sich in wildem Durcheinander häuften. Und aus Furcht, ihr bliebe nicht die Zeit, sie zu verbrennen, machte sie in fieberhafter Eile Pakete daraus, die sie verstecken und dann ihrer Großmutter schicken wollte; als sie dann plötzlich im hellen Schein der Kerze stand, verharrte sie unbeweglich in überraschter und kampfbereiter Haltung.
    »So bestiehlst du mich und mordest mich!« wiederholte Pascal wütend.
    Sie hatte noch ein Aktenbündel in ihren nackten Armen. Er wollte es ihr entreißen. Doch sie hielt es mit aller Kraft umklammert, verbissen in ihr Zerstörungswerk, ohne Verlegenheit noch Reue, eine Kämpferin, die das Recht auf ihrer Seite hat. Blind und außer sich vor Wut, stürzte Pascal sich auf sie; und sie rangen miteinander. Er hatte sie in ihrer Nacktheit gepackt und mißhandelte sie.
    »Töte mich doch!« stammelte sie. »Töte mich, oder ich zerreiße alles!«
    Aber er hielt sie fest an sich gepreßt, in einer so gewaltsamen Umschlingung, daß sie nicht mehr atmen konnte.
    »Wenn ein Kind stiehlt, muß man es züchtigen!«
    Nahe der Achselhöhle waren einige Blutstropfen an ihrer runden Schulter zu sehen, deren zarte seidenweiche Haut eine leichte Verletzung aufwies. Und wie sie so einen Augenblick nach Atem rang, kam ihm ihr zierlicher, langgestreckter jungfräulicher Körper mit den schlanken Beinen und den biegsamen Armen, ihr schmaler Rumpf mit den kleinen festen Brüsten so göttlich vor, daß er sie losließ. Mit einer letzten Anstrengung hatte er ihr das Aktenbündel entrissen.
    »Du hilfst mir jetzt, sie wieder dort oben hinzustellen, Himmeldonnerwetter! Komm her, ordne sie erst hier auf dem Tisch … Du gehorchst mir jetzt, verstanden!«
    »Ja, Meister!«
    Sie trat an den Tisch heran und half ihm, bezwungen und zerbrochen durch diese männliche Umschlingung, die ihr gleichsam ins Fleisch gedrungen war. Die Kerze, die in der schwülen Nacht mit hoher Flamme brannte, beleuchtete sie beide, und das ferne Grollen des Donners hörte nicht auf; das zum Gewitter hin geöffnete Fenster schien in Flammen zu stehen.
     

Kapitel V
    Einen Augenblick betrachtete Pascal die Aktenbündel, deren Menge ungeheuer schien, wie sie so dalagen, wahllos auf den langen Tisch geworfen, der die Mitte des großen Arbeitszimmers einnahm. In dem Durcheinander hatten sich mehrere der Aktendeckel aus starkem blauem Papier geöffnet, und die Dokumente quollen daraus hervor, Briefe, Zeitungsausschnitte, Urkunden auf Stempelpapier, handgeschriebene Aufzeichnungen.
    Schon suchte er, um die Pakete wieder zu ordnen, die in großen Buchstaben auf die Aktendeckel geschriebenen Namen, da riß er sich mit einer entschlossenen Gebärde aus dem düsteren Nachsinnen, in das er versunken war. Und zu Clotilde gewandt, die abwartend dastand, hoch

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