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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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recht zu ahnen – ich will damit sagen, daß du es liebst, geliebt zu werden. Außerdem war deine Mutter eine eifrige Romanleserin, eine versponnene Natur, die leidenschaftlich gern ganze Tage im Bett blieb und über ein Buch nachgrübelte; sie schwärmte für Ammenmärchen, ließ sich Karten legen, fragte Nachtwandler um Rat; und ich war immer der Meinung, daß dein besonderer Hang zum Mysterium, deine Sorge um das Unbekannte von dorther stammen … Aber was dich vollends formt, was dir deine Doppelnatur gibt, das ist der Einfluß deines Großvaters, des Majors Sicardot. Ich habe ihn gekannt, er war kein Genie, doch er besaß zumindest viel Rechtschaffenheit und Tatkraft. Ganz offen gesagt, glaube ich, daß du ohne ihn nicht allzuviel taugen würdest, denn die anderen Einflüsse sind kaum gut zu nennen. Er hat dir das Beste deines Wesens gegeben, den Kampfesmut, den Stolz und die Offenheit.«
    Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, sie nickte leicht mit dem Kopf, zum Zeichen, daß es wohl so sein müsse, daß sie nicht verletzt sei, obgleich ihre Lippen schmerzlich gebebt hatten, als sie diese neuen Einzelheiten hörte über die Ihren und über ihre Mutter.
    »Nun«, sagte sie, »und du, Meister?«
    Diesmal zögerte er nicht und rief:
    »Ach, ich! Wozu von mir reden? Ich gehöre nicht zur Familie! Du siehst ja, was da geschrieben steht: ›Pascal, geboren 1813. Angeborensein. Verbindung, bei der die physischen und psychischen Merkmale der Eltern sich vereinigen, ohne daß sich von ihnen irgend etwas in dem neuen Wesen wiederzufinden scheint …‹ Meine Mutter hat es mir oft genug wiederholt, daß ich nicht dazugehöre, daß sie nicht wisse, wo ich wohl herkommen könnte!«
    Und das sagte er mit Erleichterung, mit beinahe unwillkürlicher Freude.
    »Geh, das Volk täuscht sich darin nicht. Hast du jemals gehört, daß man mich in der Stadt Pascal Rougon nennt? Nein! Die Leute haben immer ganz einfach Doktor Pascal gesagt. Denn ich stehe abseits … Und es ist vielleicht nicht gerade liebevoll, aber ich bin entzückt darüber, denn es gibt wirklich Vererbungen, die allzu schwer zu tragen sind. Sosehr ich sie alle gern habe, mein Herz schlägt deshalb nicht weniger freudig, wenn ich fühle, daß ich anders bin, grundverschieden, nichts mit ihnen gemeinsam habe. Nicht dazuzugehören, nicht dazuzugehören, mein Gott! Das ist reine Luft, das gibt mir den Mut, sie alle dort zu haben, sie in diesen Akten unverhüllt darzustellen und trotzdem den Mut zum Leben zu finden!«
    Er schwieg, und Stille trat ein. Es hatte aufgehört zu regnen, das Gewitter verzog sich, man hörte das Rollen des Donners aus immer weiterer Ferne, während von dem noch dunklen, erfrischten Land ein köstlicher Geruch nach feuchter Erde durch das geöffnete Fenster hereinkam. In der Luft, die sich beruhigt hatte, brannten die Kerzen mit steter hoher Flamme nieder.
    »Ach!« sagte Clotilde nur mit einer verzagten großen Gebärde. »Was soll nun werden?«
    Sie hatte es eines Nachts voll Angst auf der Tenne gerufen: das Leben sei abscheulich, wie könne man es ruhig und glücklich leben? Eine entsetzliche Helle werfe die Wissenschaft über die Welt, die Analyse dringe in alle menschlichen Wunden ein, um ihre Schrecken zur Schau zu stellen. Und da hatte er nun noch schonungsloser gesprochen, den Ekel noch vergrößert, den sie vor den Wesen und den Dingen hatte, indem er seine Familie selber ganz nackt auf den Tisch des Seziersaales warf. Der schmutzige Strom hatte sich fast drei Stunden lang an ihr vorbeigewälzt, und es war die schlimmste Enthüllung, die jähe und schreckliche Wahrheit über die Ihren, jene teuren Wesen, die sie lieben sollte: ihr Vater, in den Verbrechen des Geldes groß geworden; ihr blutschänderischer Bruder; ihre skrupellose Großmutter, bedeckt mit dem Blut der Gerechten; die anderen fast alle verderbt, Säufer, Wüstlinge, Mörder, das ungeheuerliche Blühen des menschlichen Baumes. Der Schock war so brutal, daß sie sich kaum fassen konnte in der schmerzlichen Betäubung, in die sie versunken war, als sie solchermaßen auf einmal von all diesem Leben erfuhr. Indessen wurde diese Lektion in ihrer Heftigkeit gleichsam unschuldig gemacht durch irgend etwas Großes und Gutes, den Hauch tiefer Menschlichkeit, von dem sie durch und durch getragen war. Nichts Schlechtes hatte Clotilde dabei angerührt, ihr war, als hätte ein scharfer Meereswind sie gepeitscht, der Sturmwind, aus dem man mit gesunder, geweiteter Brust hervorgeht.

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