Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
ich sie nur auf die Gesamtheit dieser Fakten zu stützen … Das Wunderbare daran ist eben, daß man hier deutlich erkennt, wie Geschöpfe desselben Ursprungs von Grund auf verschieden sein können, nur indem sie die logischen Abwandlungen der gemeinsamen Vorfahren darstellen. Der Stamm erklärt die Zweige, die wiederum die Blätter erklären. Bei deinem Vater Saccard wie bei deinem Onkel Eugène Rougon, die in ihrem Temperament und in ihrer Lebensführung so gegensätzlich sind, hat derselbe Trieb die zügellosen Begierden des einen, den übersteigerten Ehrgeiz des anderen bewirkt. Angélique, die reine Lilie, wird von der zweifelhaften Sidonie geboren, in jenem unerklärlichen Überschwang, der je nach der Umgebung die mystischen oder die liebenden Frauen hervorbringt. Die drei Kinder der Mourets werden von ein und derselben Kraft getrieben; sie macht aus dem klugen Octave einen millionenreichen Modewarenhändler, aus dem gläubigen Serge einen armen Landpfarrer, aus der schwachsinnigen Desiree ein glückliches schönes Mädchen. Noch deutlicher zeigt sich das am Beispiel der Kinder von Gervaise:
    die Nervenkrankheit verschwindet, und Nana verkauft sich, Etienne revoltiert, Jacques mordet, Claude besitzt Genie, während Pauline, ihre Cousine ersten Grades, die siegreiche Redlichkeit ist, die kämpft und sich aufopfert … Die Vererbung, die das Leben selber ist, bringt Schwachsinnige, Verrückte, Verbrecher und große Männer hervor. Zellen sterben ab, andere nehmen ihren Platz ein, und man hat einen Schurken oder einen Tobsüchtigen anstelle eines genialen oder eines einfachen ehrbaren Menschen. Und die Menschheit flutet dahin und reißt alles mit sich!«
    Dann nahm ein neuer Gedanke ihn gefangen.
    »Und die Tierwelt, das Tier, das leidet und liebt, das gleichsam die Vorstufe des Menschen ist, die ganze brüderliche Tierwelt, die an unserem Leben teilhat! Ja, ich hätte sie in die Arche stecken mögen, ihr einen Platz mitten in unserer Familie einräumen und zeigen wollen, daß sie für immer mit uns verbunden ist und unser Dasein vervollständigt. Ich habe Katzen gekannt, deren Gegenwart den geheimnisvollen Zauber eines Hauses ausmachte, Hunde, die man abgöttisch liebte, deren Tod beweint wurde und untröstliche Trauer im Herzen zurückließ. Ich habe Ziegen, Kühe, Esel gekannt, die eine so große Rolle spielten, daß man ihre Geschichte schreiben müßte … Und sieh nur, unser Bonhomme, unser armes altes Pferd, das uns ein Vierteljahrhundert gedient hat – glaubst du nicht, daß es etwas von seinem Blut dem unseren beigemischt hat und daß es nunmehr zur Familie gehört? Wir haben es verändert, so wie es selber ein wenig auf uns eingewirkt hat; wir sind am Ende nach demselben Bilde geschaffen, und das ist so wahr, daß ich es auf beide Wangen küsse wie einen armen alten Verwandten, der meiner Sorge anheimgegeben ist, wenn ich es jetzt halb blind, mit trübem Blick und rheumatischen lahmen Beinen dastehen sehe. Ach, die Tierwelt, alles, was unterhalb der Sphäre des Menschen existiert und leidet, welchen Platz unendlichen Mitgefühls müßte man ihr in einer Geschichte des Lebens einräumen!«
    Das war ein letzter Aufschrei, in dem Pascal seine schwärmerische Zuneigung zu jeglichem Lebewesen kundtat. Er war nach und nach in Erregung geraten, er bekannte schließlich seinen Glauben an die unaufhörliche, siegreiche Mühe der lebenden Natur. Und Clotilde, die bis dahin nicht gesprochen hatte, die ganz weiß geworden war beim Ansturm so vieler unheilvoller Tatsachen, öffnete endlich den Mund, um zu fragen:
    »Nun, Meister, und was bin ich in dem Ganzen?«
    Sie hatte einen ihrer schlanken Finger auf das Blatt des Stammbaums gelegt, auf dem ihr Name eingetragen war. Pascal hatte dieses Blatt immer übergangen. Doch sie bestand auf einer Antwort.
    »Ja, ich, was bin ich denn? Warum hast du mir meine Akte nicht vorgelesen?«
    Einen Augenblick blieb er stumm, gleichsam verwundert über diese Frage.
    »Warum? Ja, warum eigentlich … Es ist wahr, ich habe dir nichts zu verbergen … Du siehst, was dort geschrieben steht: ›Clotilde, geboren 1847. Elektion der Mutter. Überspringende Vererbung mit psychischer und physischer Dominanz ihres Großvaters mütterlicherseits …‹ Ganz eindeutig. Deine Mutter hat sich in dir durchgesetzt, du hast ihren schönen Appetit, und du hast ebenfalls viel von ihrer Koketterie, von ihrer Trägheit zuweilen, von ihrer Ergebenheit. Ja, du bist in hohem Grade Weib wie sie, ohne es

Weitere Kostenlose Bücher