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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Pascal hatte alles gesagt, hatte selbst von seiner Mutter freimütig gesprochen, wobei er ihr gegenüber weiterhin die ehrerbietige Haltung eines Wissenschaftlers bewahrte, der die Tatsachen nicht richtet. Alles sagen, um alles zu erkennen und alles zu heilen – war das nicht der Schrei, den er in jener schönen Sommernacht ausgestoßen hatte? Sie war erschüttert durch das Übermaß dessen, was er ihr mitteilte, geblendet von diesem allzu hellen Licht, doch sie begriff endlich und gestand sich ein, daß er da ein ungeheures Werk unternahm. Trotz allem war es ein Schrei der Gesundheit, der Hoffnung, der Zukunft. Er sprach als Heilbringer, der von dem Augenblick an, da die Vererbung die Welt schuf, ihre Gesetze formulieren wollte, um über sie zu verfügen und eine glückliche Welt wiederherzustellen.
    Und gab es denn nur Schmutz in diesem überquellenden Strom, dessen Schleusen er geöffnet hatte? Wieviel Gold gab es nicht auch, vermischt mit den Gräsern und Blumen der Ufer! Hunderte von Geschöpfen liefen noch vor ihr her, und sie blieb im Banne bezaubernder gütiger Gestalten, zarter Mädchengesichter, heiterer Frauenschönheit. Alle Leidenschaft blutete dort, das Herz öffnete sich in zärtlichen Wallungen. Sie waren zahlreich, die Jeanne, Angélique, Pauline, Marthe, Gervaise, Helene. Von ihnen und von den anderen, selbst von den weniger guten, selbst von den schrecklichen Männern, den schlimmsten der Schar, ging eine brüderliche Menschlichkeit aus. Und ebenjenen Hauch hatte sie gespürt, jenen Strom allumfassender Sympathie in Pascals klarer Gelehrtenlektion. Er schien keineswegs gerührt, er bewahrte die unpersönliche Haltung eines Demonstrators; aber welch schmerzerfüllte Güte in seinem tiefsten Innern, welch Fieber der Aufopferung, welch völlige Hingabe für das Glück der anderen! Sein ganzes mathematisch aufgebautes Werk war bis in seine blutigsten Ironien durchdrungen von dieser schmerzlichen Brüderlichkeit. Hatte er nicht von den Tieren zu ihr gesprochen wie ein älterer Bruder aller elenden Lebewesen, die da leiden? Das Leiden brachte ihn auf. Er war nur zornig, daß sein Traum zu erhaben war; er war nur grob geworden in seinem Haß auf das Gekünstelte und das Vergängliche, weil er davon träumte, nicht für eine gesittete Gesellschaft eines bestimmten Augenblicks zu arbeiten, sondern für die ganze Menschheit in allen ernsten Stunden ihrer Geschichte. Vielleicht war es sogar diese Empörung gegen die übliche Banalität, die ihn veranlaßt hatte, sich kühn auf die Theorien und ihre Anwendung zu stürzen. Und das Werk war menschlich, erfüllt vom ungeheuren Schluchzen der Wesen und der Dinge.
    War es denn nicht so im Leben? Es gibt nichts absolut Schlechtes. Niemals ist ein Mensch für alle schlecht, stets macht er jemanden glücklich; und wer nicht von einem einzigen Gesichtspunkt ausgeht, wird am Ende erkennen, daß jedes Wesen auf seine Weise nützlich ist. Jene, die an einen Gott glauben, müssen sich sagen, daß ihr Gott die Bösen nur deshalb nicht zerschmettert, weil er sein ganzes Werk sieht und sich nicht mit dem einzelnen befassen kann. Die Mühsal beginnt immer wieder von neuem, die Gesamtheit der Lebenden muß man dennoch wegen ihres Mutes und ihres Wirkens bewundern; die Liebe zum Leben reißt alles mit. Diese gewaltige Arbeit der Menschen, dieser beharrliche Lebenswille ist ihre Entschuldigung, ist die Erlösung. Aus sehr großer Höhe also gewahrte der Blick nur noch dieses ständige Ringen und trotz allem viel Gutes, wenn es auch viel Schlechtes gab. Man war erfüllt von umfassender Nachsicht, man verzieh, man empfand nur noch unendliches Erbarmen und glühende Nächstenliebe. Der Hafen war gewißlich dort und wartete auf jene, die ihren Glauben an die Dogmen verloren haben, die begreifen möchten, warum sie inmitten der offensichtlichen Ungerechtigkeit der Welt leben. Man muß leben um der Anstrengung willen, die das Leben erfordert, um des Steines willen, den man dem geheimnisvollen fernen Werk hinzufügt, und der einzig mögliche Frieden auf dieser Erde liegt in der Freude über diese vollbrachte Anstrengung.
    Noch eine Stunde war vergangen, die ganze Nacht war verstrichen bei dieser schrecklichen Lektion über das Leben, ohne daß Pascal und Clotilde merkten, an welchem Ort sie sich befanden und wie die Zeit entfloh. Und er, der seit einigen Wochen überanstrengt und bereits angegriffen war durch sein von Argwohn und Kummer erfülltes Dasein, wurde wie bei plötzlichem

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