Doktor Pascal - 20
Ruhe, um insgeheim die schwärzesten Komplotte schmieden zu können. Seine Besorgnisse waren sogar noch größer geworden, er war jeden Tag auf eine Katastrophe gefaßt, sah seine Papiere schon in der Tiefe eines jäh sich öffnenden Abgrunds versunken, die ganze Souleiade zerstört und hinweggefegt. Der solchermaßen verschleierte Angriff auf sein Denken, auf sein seelisches und geistiges Leben war so entnervend, so unerträglich, daß Pascal sich abends mit Fieber zu Bett legte. Oft schreckte er zusammen, sah sich rasch um in dem Glauben, er würde den Feind hinter seinem Rücken bei irgendeinem Verrat ertappen; und es war niemand da, nichts als sein eigenes Erschauern in der Dunkelheit. Andere Male lag er, von Argwohn ergriffen, stundenlang hinter seinen Fensterläden oder im Flur auf der Lauer, doch keine Seele rührte sich, er hörte nur das heftige Pochen in seinen Schläfen. Er war völlig verstört, er legte sich nicht mehr ins Bett, ohne vorher jedes Zimmer zu durchsuchen; er konnte nicht mehr schlafen, denn beim geringsten Geräusch erwachte er, rang nach Atem und machte sich bereit, sich zu verteidigen.
Am meisten litt Pascal unter dem immer quälender werdenden ständigen Gedanken, daß ihm die Wunde zugefügt wurde von dem einzigen Geschöpf, das er auf dieser Welt liebte, von der angebeteten Clotilde, die er seit zwanzig Jahren in Schönheit und Liebreiz heranwachsen sah, deren Leben bis jetzt ein einziges Erblühen gewesen war und auch sein Leben mit Duft erfüllte. Clotilde, mein Gott, für die sein Herz eine grenzenlose Liebe empfand, die er niemals analysiert hatte! Sie, die seine Freude geworden war, sein Mut, seine Hoffnung, eine ganze neue Jugend, in der er wiederauflebte! Wenn sie vorüberging mit ihrem runden, frischen, zarten Hals, war er erquickt, trunken von Freude und Gesundheit wie bei der Wiederkehr des Frühlings. Sein ganzes Dasein erklärte sich aus dieser Besitznahme, Clotilde hatte sein ganzes Wesen durchdrungen; schon als Kind hatte sie seine Zuneigung gewonnen, und wie sie heranwuchs, beanspruchte sie nach und nach allen Platz in seinem Herzen. Seitdem sich Pascal endgültig in Plassans niedergelassen, führte er das Leben eines Benediktinermönches, in seine Bücher vergraben, fern den Frauen. Man wußte nur von seiner Leidenschaft für jene Dame, die gestorben war und der er niemals auch nur die Fingerspitzen geküßt hatte. Gewiß machte er zuweilen Reisen nach Marseille und blieb dort über Nacht; doch das waren plötzliche Ausbrüche, flüchtige Abenteuer, die am Tag darauf vergessen waren. Er hatte gar nicht richtig gelebt, er hatte sich seine ganze Manneskraft bewahrt, deren Flut jetzt, da das Alter drohend herannahte, dumpf aufbegehrte. Er hätte sich leidenschaftlich für ein Tier begeistern können, für einen irgendwo aufgelesenen Hund, der ihm die Hände lecken würde; aber nun war es Clotilde, der er seine Liebe geschenkt hatte, das kleine Mädchen, das plötzlich ein begehrenswertes Weib geworden war; sie hatte jetzt völlig von ihm Besitz ergriffen und quälte ihn, indem sie solchermaßen seine Feindin war.
Der sonst so fröhliche, so gütige Pascal verfiel in eine unerträgliche Launenhaftigkeit und Härte. Er wurde beim geringsten Wort zornig und schikanierte Martine, die mit den demütigen Augen eines geschlagenen Tieres erstaunt zu ihm aufblickte. Vom Morgen bis zum Abend trug er seinen Jammer durch das kummervolle Haus, mit so bösem Gesicht, daß man ihn nicht anzusprechen wagte. Clotilde nahm er nie mehr zu seinen Krankenbesuchen mit, sondern ging allein. Und so allein kehrte er eines Nachmittags heim, ganz aufgewühlt, weil er als wagemutiger Arzt den Tod eines Menschen verschuldet hatte. Er hatte Lafouasse eine Spritze gegeben, weil die Ataxie des Schankwirts plötzlich so fortgeschritten war, daß er ihn für verloren halten mußte. Aber er wollte trotzdem nicht aufgeben, er setzte die Behandlung fort; und das Unglück hatte es gewollt, daß an jenem Tage die kleine Spritze ein unreines Teilchen, das durch den Filter geschlüpft war, vom Grunde der Phiole mit aufgenommen hatte. Und eben diesmal war ein wenig Blut zum Vorschein gekommen – er hatte, um das Unglück voll zu machen, eine Vene getroffen. Sogleich war er unruhig geworden, als er sah, wie der Schankwirt bleich wurde, wie er nach Atem rang und ihm große kalte Schweißtropfen auf die Stirn traten. Als dann blitzartig der Tod eintrat, die Lippen blau wurden, das Gesicht sich dunkel färbte,
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