Doktor Pascal - 20
bereits wieder im zweiten Monat schwanger – einer jener Fälle üppiger Fruchtbarkeit, wo den Müttern keine Zeit bleibt, ihre Kleinen zu stillen.
»Gewiß, ja«, begann er halblaut von neuem, »die Geschlechter degenerieren. Es gibt da eine regelrechte Erschöpfung, einen raschen Verfall, als hätten sich die Unseren in ihrer rasenden Genußsucht, in der gefräßigen Befriedigung ihrer Begierden allzu schnell aufgezehrt. Louiset ist in der Wiege gestorben; JacquesLouis, halb schwachsinnig, wurde von einer Nervenkrankheit dahingerafft; Victor, verwildert, treibt sich in wer weiß welchen Finsternissen herum; schließlich unser armer Charles, so schön und so zerbrechlich: das sind die letzten Zweige des Baumes, die letzten bleichen Triebe, in die der mächtige Saft der großen Äste anscheinend nicht hinaufzusteigen vermag. Der Wurm war im Stamm, jetzt sitzt er in der Frucht und verzehrt sie … Doch man soll niemals verzweifeln, die Familien sind das ewige Werden. Über den gemeinsamen Vorfahren hinaus tauchen sie durch die unergründlichen Schichten der Geschlechter, die bereits gelebt haben, bis zum ersten Wesen hinab; und sie werden immerfort wachsen, sie werden sich ausbreiten, sich in den künftigen Zeitaltern bis ins Unendliche verzweigen … Sieh unseren Stammbaum an: er zählt nur fünf Generationen, er ist nicht einmal soviel wie ein Grashalm in dem riesigen dunklen menschlichen Wald, dessen große hundertjährige Eichen die Völker sind. Denk nur an seine gewaltigen Wurzeln, die den ganzen Boden durchziehen, denk an die fortwährende Entfaltung seiner obersten Blätter, die sich mit anderen Blättern mischen, an das Meer der Wipfel, das unaufhörlich im ewigen befruchtenden Odem des Lebens wogt … Nun ja, da liegt die Hoffnung, in der täglichen Erneuerung des Geschlechts durch das neue Blut, das von außen hinzukommt. Jede Heirat bringt andere Elemente mit, gute oder schlechte, die dennoch bewirken, daß die mathematische und fortschreitende Degenerierung verhindert wird. Die Lücken werden wieder ausgefüllt, die Schandflecken ausgelöscht, nach einigen Generationen wird ein schicksalhaftes Gleichgewicht wiederhergestellt, und was schließlich immer wieder daraus hervorgeht, ist der Durchschnittsmensch, die unbestimmbare menschliche Natur, hartnäckig in ihrem geheimnisvollen Wirken, auf dem Weg zu ihrem unbekannten Ziel.«
Er hielt inne und seufzte tief.
»Ach, unsere Familie – was wird aus ihr werden, wie wird sie schließlich aussehen?«
Und er fuhr fort, zählte aber nicht mehr auf die Überlebenden, die er genannt und eingeordnet hatte und von denen er wußte, wessen sie fähig waren, sondern wandte sich voll lebhafter Neugier den Kindern zu, die noch im zarten Alter standen. Er hatte an einen Kollegen in Nouméa geschrieben, um genaue Auskünfte über die Frau Etiennes und über das Kind einzuholen, das sie zur Welt gebracht haben sollte, doch er erhielt keine Antwort, und er fürchtete sehr, daß von dieser Seite her der Stammbaum unvollständig bleiben würde. Bessere Unterlagen besaß er über die beiden Kinder von Octave Mouret, mit dem er im Briefwechsel stand: das kleine Mädchen war schwächlich, ein Sorgenkind, während der kleine Junge nach seiner Mutter geraten war und prächtig gedieh. Seine stärkste Hoffnung setzte er im übrigen auf die Kinder von Jean, dessen Erstgeborener, ein kräftiger Junge, die Erneuerung mitzubringen schien, den frischen Saft der Geschlechter, die neue Kraft aus der Erde saugen werden. Manchmal fuhr er nach Valqueyras und kehrte glücklich aus diesem fruchtbaren Erdenwinkel zurück, von dem ruhigen, vernünftigen Vater, der immer hinter seinem Pflug herging, von der fröhlichen, schlichten Mutter mit den breiten Hüften, die eine Welt zu tragen fähig waren. Wer konnte wissen, wo der gesunde Zweig hervorbrechen würde? Vielleicht keimte dort die erwartete Kraft und Vernunft. Daß diese Jungen und Mädchen noch so klein waren, daß er sie nicht einordnen konnte, beeinträchtigte die Schönheit seines Stammbaums am meisten. Und seine Stimme klang gerührt angesichts der Hoffnung auf die Zukunft, die diese blonden Köpfe verkörperten, und in dem uneingestandenen Schmerz über seine eigene Ehelosigkeit.
Pascal betrachtete noch immer den vor ihm ausgebreiteten Stammbaum. Er sagte:
»Und dennoch ist er vollständig und erklärt alles, sieh doch! Ich wiederhole dir, daß alle Vererbungsfälle darin zu finden sind. Um meine Theorie aufzustellen, brauchte
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