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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Erwachen von einem nervösen Schauer geschüttelt.
    »So, nun weißt du alles – ist dein Herz jetzt stark, gestählt durch die Wahrheit, erfüllt von Verzeihung und Hoffnung? Hältst du nun zu mir?«
    Doch unter dem furchtbaren psychischen Schock, den sie erlitten hatte, schauderte sie selber und vermochte sich nicht wieder zu fassen. Sie erlebte einen solchen Zusammenbruch des alten Glaubens, eine solche Entwicklung hin auf eine neue Welt, daß sie nicht wagte, sich zu befragen und sich zu entscheiden. Sie fühlte sich jetzt gepackt, fortgerissen von der Allmacht der Wahrheit. Sie nahm sie hin, aber sie war nicht überzeugt.
    »Meister«, stammelte sie, »Meister …«
    Und sie standen einen Augenblick Auge in Auge einander gegenüber und schauten sich an. Der Tag brach an, eine Morgendämmerung von köstlicher Reinheit am klaren, weiten, vom Gewitter reingewaschenen Himmel. Keine Wolke fleckte mehr das rosig getönte blasse Blau. Das fröhliche Erwachen des regennassen Landes drang durch das Fenster herein, während die Kerzen, die völlig herunterbrannten, in der zunehmenden Helle verblaßten.
    »Antworte, willst du hier noch immer alles zerstören, alles verbrennen? Hältst du nun zu mir, ganz zu mir?«
    In diesem Augenblick glaubte er, sie werde ihm weinend um den Hals fallen. Ein plötzlicher Impuls schien sie dazu zu treiben. Doch nun erblickten sie einander in ihrer halben Nacktheit. Sie, die sich bis dahin nicht gesehen hatte, merkte, daß sie nur im Unterrock dastand, mit nackten Armen, nackten Schultern, kaum von den wirren Strähnen ihres aufgelösten Haars bedeckt; und an der linken Achselhöhle sah sie, als sie niederblickte, die wenigen Blutstropfen, die Verletzung, die er ihr zugefügt hatte, um sie in einer gewaltsamen Umschlingung zu bezwingen. Sie war völlig verwirrt, war sicher, daß sie unterliegen würde, als wäre er durch diese Umschlingung ihr Meister geworden, in allem und für immer. Ihre Verwirrung hielt an, Clotilde war überwältigt, gegen ihren Willen fortgerissen, von dem unwiderstehlichen Verlangen erfüllt, sich hinzugeben.
    Plötzlich richtete sie sich auf, sie wollte alles noch einmal überdenken. Sie hatte die nackten Arme auf die nackte Brust gepreßt. Alles Blut ihrer Adern war ihr in einer purpurnen Woge der Scham ins Gesicht gestiegen. Und sie schickte sich an, die Flucht zu ergreifen, eine zarte Gestalt in ihrer göttlichen Schlankheit.
    »Meister, Meister, laß mich … Ich will sehen …«
    Mit der Behendigkeit einer ängstlichen Jungfrau hatte sie sich, wie schon einmal, in ihr Zimmer geflüchtet. Er hörte, wie sie die Tür rasch zweimal zuschloß. Er blieb allein und fragte sich, plötzlich von unendlicher Mutlosigkeit und Traurigkeit ergriffen, ob er recht getan hatte, alles zu sagen; ob die Wahrheit in diesem angebeteten teuren Geschöpf keimen und eines Tages zu einer glückhaften Ernte heranreifen würde.
     

Kapitel VI
    Tage vergingen. Der Oktober war zu Beginn herrlich, ein glühender Herbst, heiße Sommerleidenschaft in voller Reife, ohne eine Wolke am Himmel; dann schlug das Wetter um, Stürme tobten, ein letztes Gewitter wusch die Hänge aus. Und mit dem Nahen des Winters schien eine unendliche Traurigkeit in das düstere Haus auf der Souleiade eingezogen zu sein.
    Es war jetzt eine andere Hölle. Zwischen Pascal und Clotilde gab es keine hitzigen Streitgespräche mehr. Es wurden keine Türen mehr zugeschlagen, es gab keine lauten Wortwechsel mehr, die Martine zwangen, alle Stunden hinaufzugehen. Sie sprachen jetzt kaum noch miteinander, und über die nächtliche Szene fiel kein Wort. Aus einem unerklärlichen Bedenken, einer seltsamen Scham heraus, die er sich nicht eingestand, wollte Pascal das Gespräch nicht wieder aufnehmen, wollte er nicht auf die erwartete Antwort drängen, auf ein Wort des Glaubens an ihn, auf ein Wort der Unterwerfung. Clotilde indessen überlegte noch nach dem heftigen psychischen Schock, der sie ganz verwandelt hatte; sie zögerte, rang mit sich, wich der Aussprache aus, um sich nicht ergeben zu müssen, war noch voll instinktiver Auflehnung. Und das Mißverständnis wurde immer größer in der trostlosen tiefen Stille des jammervollen Hauses, aus dem das Glück entschwunden war.
    Für Pascal war es eine Zeit, in der er entsetzlich litt, ohne zu klagen. Der scheinbare Friede beruhigte ihn nicht, im Gegenteil. Ein bedrückendes Mißtrauen erfüllte ihn, er wähnte sich weiterhin belauert und glaubte, man lasse ihn nur deshalb in

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