Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
ihr vorging.
    »Er ist oben, nicht wahr?« fragte Félicité. »Ich möchte ihn sehen, denn das muß ein Ende haben, das wird langsam zu dumm!«
    Und sie ging hinauf, während Martine sich wieder an ihre Kochtöpfe begab und Clotilde von neuem durch das leere Haus irrte.
    Oben im großen Arbeitszimmer saß Pascal wie betäubt über einem aufgeschlagenen Buch. Er vermochte nicht mehr zu lesen, die Worte flohen, verschwammen, hatten keinerlei Sinn für ihn. Doch er gab nicht auf, er kämpfte verzweifelt dagegen an, daß er nun auch noch seine bis jetzt so gewaltige Schaffenskraft verlieren sollte. Seine Mutter tadelte ihn sogleich, entriß ihm das Buch, warf es weit fort auf einen Tisch und redete laut auf ihn ein, daß man sich schonen müsse, wenn man krank sei. Er hatte sich mit einer zornigen Gebärde erhoben, um sie hinauszuwerfen, so wie er Clotilde hinausgeworfen hatte. Dann aber fand er mit äußerster Willensanstrengung zu seiner ehrerbietigen Haltung zurück.
    »Mutter, Ihr wißt sehr gut, daß ich mich niemals mit Euch streiten wollte … Laßt mich in Frieden, ich bitte Euch darum.«
    Sie gab nicht nach, sie hielt ihm sein ständiges Mißtrauen vor. Er selber mache sich krank, wenn er immer glaube, daß er von Feinden umgeben sei, die ihm Fallen stellen und ihm auflauern, um ihn auszuplündern. Wie könne ein Mann mit gesundem Menschenverstand auf die Idee kommen, daß er auf diese Weise verfolgt werde? Andererseits beschuldigte sie ihn, den Kopf allzu hoch zu tragen seit seiner Entdeckung, seiner famosen Flüssigkeit, die alle Krankheiten heilen sollte. Es bringe auch nichts ein, wenn man sich für den lieben Gott halte. Die Enttäuschungen seien dann nur um so grausamer; und sie machte eine Anspielung auf Lafouasse, den Mann, den er getötet hatte: sie verstehe natürlich, daß ihm das nicht angenehm gewesen sei, so etwas könne einen schon krank machen.
    »Mutter, ich bitte Euch, laßt mich in Frieden.«
    »Aber nein, ich will dich nicht in Frieden lassen!« rief sie mit ihrer gewohnten Heftigkeit, die sie sich trotz ihres hohen Alters bewahrt hatte. »Ich bin ja gerade gekommen, um dich ein wenig aufzurütteln, um dich aus diesem Fieber herauszureißen, in dem du dich verzehrst … Nein, das kann so nicht weitergehen, ich will nicht, daß wir wieder zum Gespött der ganzen Stadt werden durch deine Geschichten … Du mußt dich jetzt schonen.«
    Er zuckte die Achseln und sagte leise, wie zu sich selbst, als ob er selbst beunruhigt diese Feststellung machte:
    »Ich bin nicht krank.«
    Doch da fuhr Félicité hoch und rief ganz außer sich:
    »Was soll das heißen, nicht krank! Nicht krank! Man muß wohl schon ein Arzt sein, um sich so wenig zu kennen … Ach, mein armer Junge, jeder, der dich sieht, ist darüber erschrocken: du wirst wahnsinnig vor Hochmut und vor Angst!«
    Diesmal hob Pascal lebhaft den Kopf und sah ihr in die Augen, während sie fortfuhr:
    »Das ist es, was ich dir sagen mußte, weil niemand sonst es auf sich nehmen wollte. Nicht wahr, du bist alt genug, um zu wissen, was du zu tun hast … Man reagiert entsprechend, man denkt an andere Dinge, man läßt sich nicht von seiner fixen Idee beherrschen, zumal wenn man aus einer Familie wie der unseren stammt … Du kennst sie ja. Nimm dich in acht, schone dich.«
    Er war blaß geworden, er sah sie noch immer fest an, als wollte er sie ausloten, um herauszufinden, was von ihr in ihm selber vorhanden war. Und er sagte nur:
    »Ihr habt recht, Mutter … Ich danke Euch.«
    Als er dann allein war, sank er wieder auf seinen Stuhl vor dem Tisch und wollte in der Lektüre seines Buches fortfahren. Doch auch jetzt konnte er sich nicht genügend konzentrieren, um die Worte zu begreifen, deren Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Und die Worte seiner Mutter dröhnten ihm in den Ohren; die Angst, die er seit einiger Zeit verspürte, wuchs in ihm, setzte sich fest, verfolgte ihn jetzt als eine deutlich umrissene unmittelbare Gefahr. Er, der sich noch vor zwei Monaten so triumphierend gerühmt hatte, nicht zur Familie zu gehören – sollte er nun auf schrecklichste Weise Lügen gestraft werden? Sollte er erdulden müssen, daß der Makel der Familie in seinem Mark wiederauferstand? War er dem Entsetzen preisgegeben, in die Klauen des Erbübels zu geraten? Seine Mutter hatte es gesagt: er wurde wahnsinnig vor Hochmut und Angst. Sein erhabener Gedanke, seine schwärmerische Gewißheit, das Leiden abzuschaffen, den Menschen Willenskraft zu geben, eine

Weitere Kostenlose Bücher