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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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und mit tränenfeuchten Wangen. Warum, mein Gott, wollte der Baum ihm nicht Antwort geben, ihm sagen, welchem Vorfahren er nachgeriet, damit er seinen Fall auf diesem Blatt neben den anderen eintragen konnte? Wenn er wahnsinnig werden sollte, warum sagte es der Baum ihm nicht klar und deutlich? Das hätte ihn beruhigt, denn er glaubte nur unter der Ungewißheit zu leiden. Aber seine Tränen trübten ihm den Blick, und er schaute noch immer auf das Blatt und verzehrte sich in dem Bedürfnis, Gewißheit zu erlangen, was seinen Verstand am Ende ins Wanken brachte. Plötzlich mußte Clotilde sich verstecken, denn er ging auf den Schrank zu, er öffnete beide Türen, nahm die Akten, warf sie auf den Tisch und blätterte fieberhaft darin. Es war die Szene in der schrecklichen Gewitternacht, die sich da wiederholte, jener alptraumgleiche Galopp, der Aufmarsch all jener Gespenster, die da heraufbeschworen wurden und nun aus dieser Anhäufung beschriebenen Papiers aufstiegen. Und wie sie so an ihm vorüberzogen, richtete er an jeden von ihnen eine Frage, eine glühende Bitte: er forderte Aufklärung über den Ursprung seines Leidens, hoffte auf ein Wort, ein Flüstern, das ihm Gewißheit geben sollte. Zunächst hatte er nur undeutlich gestammelt; dann hatten sich Worte, Satzfetzen gebildet.
    »Bist du es? Bist du es? Bist du es? Oh, alte Mutter, unser aller Mutter, bist du es? Hast du mir deinen Wahnsinn vererbt? Bist du es, Onkel, alter Trunkenbold und Räuber? Werde ich deine eingefleischte Trunksucht bezahlen müssen? … Bist du es, der gelähmte, oder du, der mystische Neffe, oder auch du, die schwachsinnige Nichte? Bringt ihr mir die Wahrheit, tut ihr mir kund, woran ich leide? … Oder seid ihr es gar, der Großneffe, der sich erhängt hat, oder der Großneffe, der getötet hat, oder die Großnichte, die an der Fäulnis zugrunde gegangen ist – kündigt mir euer tragisches Ende das meine an, den Verfall in einer Gummizelle, die abscheuliche Auflösung des Seins?«
    Und der Galopp ging weiter, sie tauchten alle vor ihm auf und zogen mit Sturmesbrausen an ihm vorbei. Die Akten wurden lebendig, nahmen Gestalt an, ein wogender Haufe leidender Menschheit.
    »Ach, wer wird es mir sagen, wer wird es mir sagen, wer wird es mir sagen? … Dieser dort, der im Wahnsinn starb? Jene da, die von der Schwindsucht dahingerafft wurde? Dieser dort, der an der Lähmung erstickt ist? Jene da, die ein physiologisches Leiden schon in frühester Jugend getötet hat? … Bei wem findet sich das Gift, an dem ich sterben werde? Welches Gift wird es sein: Hysterie, Trunksucht, Tuberkulose, Skrofulose? Und was wird das Gift aus mir machen: einen Epileptiker, einen Gelähmten oder einen Wahnsinnigen? … Wahnsinn! Wer hat da Wahnsinn gesagt? Sie sagen es alle, Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn!«
    Schluchzen würgte Pascal. Er ließ den Kopf kraftlos auf die Akten sinken, er weinte ohne Ende, von Schauern geschüttelt. Clotilde, von gottesfürchtigem Schrecken ergriffen, da sie die Hand des Schicksals fühlte, das die Geschlechter lenkt, stahl sich mit angehaltenem Atem leise davon; denn sie begriff sehr wohl, wie beschämt Pascal gewesen wäre, wenn er ihre Anwesenheit bemerkt hätte.
    Es folgten Tage großer Niedergeschlagenheit. Der Januar war sehr kalt. Aber der Himmel war von wunderbarer Reinheit, und an dem blauen Firmament stand unentwegt die Sonne. Da auf der Souleiade die Fenster des großen Arbeitszimmers nach Süden gingen, war es dort herrlich warm wie in einem Treibhaus. Man brauchte nicht einmal Feuer zu machen, den ganzen Tag schien die Sonne mit ihren mattgoldenen Strahlen in das Zimmer, in dem noch die vom Winter verschonten Fliegen umherflogen. Kein anderes Geräusch war zu vernehmen als das Surren ihrer Flügel. Die eingefangene schlummernde Wärme war wie ein Hauch des Frühlings, der sich in dem alten Haus erhalten hatte.
    Dort mußte Pascal eines Morgens das Ende eines Gesprächs mit anhören, das sein Leiden verschlimmerte. Er kam nur noch selten vor dem Mittagessen aus seinem Zimmer, und Clotilde hatte an diesem Tage Doktor Ramond in dem großen Arbeitszimmer empfangen, wo sie in der hellen Sonne nahe beieinander saßen und sich leise unterhielten.
    Ramond war zum drittenmal innerhalb von acht Tagen erschienen. Persönliche Umstände, vor allem die Notwendigkeit, seine Stellung als Arzt in Plassans endgültig zu festigen, gestatteten es ihm nicht, seine Heirat noch länger hinauszuschieben; er wollte von Clotilde eine

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