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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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neue, gesunde, höher stehende Menschheit zu schaffen, war gewiß nichts anderes als der beginnende Größenwahn. Und in seiner Furcht vor einem Hinterhalt, in seinem Bedürfnis, die vermeintlichen Feinde zu belauern, die sein Verderben wollten, erkannte er unschwer die Symptome des Verfolgungswahns. Alle Krankheitserscheinungen der Familie liefen auf diesen schrecklichen Fall hinaus: binnen kurzer Zeit ausbrechender Wahnsinn, dann allgemeine Paralyse und schließlich der Tod.
    Von diesem Tage an war Pascal wie besessen. Der nervöse Erschöpfungszustand, den die Überanstrengung und der Kummer zur Folge hatten, trieb ihn, ohne daß er Widerstand zu leisten vermochte, in die Vorstellung von Wahnsinn und Tod. Alle krankhaften Symptome, seine schreckliche Müdigkeit beim Aufstehen, das Ohrensausen, das Flimmern vor den Augen, auch seine Verdauungsbeschwerden und die Weinkrämpfe, galten ihm nun als sichere Beweise der nahen Zerrüttung, von der er sich bedroht fühlte. Jetzt, da es um ihn selber ging, hatte er die Fähigkeit des Arztes und Forschers, eine genaue Diagnose zu stellen, völlig verloren; und je länger er überlegte, um so mehr verwirrte und entstellte er alles in seiner psychischen und physischen Depression. Er war nicht mehr Herr seiner selbst, er war wie von Sinnen und wollte sich stündlich davon überzeugen, daß er wahnsinnig würde.
    In jenem Dezember brachte er alle Tage damit zu, sich immer mehr in sein Leiden zu versenken. Jeden Morgen wollte er dem Grauen entrinnen, und jedesmal kehrte er dennoch in das große Arbeitszimmer zurück, schloß sich dort ein und nahm das verwirrte Grübeln vom Vortag wieder auf. Seine langjährigen Studien über die Vererbung, seine umfangreichen Untersuchungen, seine Abhandlungen vergifteten ihn vollends und lieferten ihm unaufhörlich neue Gründe zur Beunruhigung. Auf seine ständige Frage, welcher Vererbungsfall auf ihn zutreffe, gaben die Akten mit allen nur möglichen Kombinationen Antwort. Diese Kombinationen erwiesen sich als so zahlreich, daß er sich jetzt darin verlor. Wenn er sich nun getäuscht hatte, wenn er sich nicht als Sonderfall betrachten durfte, als bemerkenswerten Fall von Angeborensein, gehörte er dann in die Reihe der überspringenden Vererbung, bei der die Merkmale von Vorfahren nach einer, zwei oder gar drei Generationen wieder auftraten? Oder war sein Fall vielmehr eine Äußerung verdeckter Vererbung, die einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie vom Keimplasma lieferte? Oder mußte man darin nur die Singularität der aufeinanderfolgenden Ähnlichkeiten sehen, das plötzliche Auftauchen von Eigenschaften eines unbekannten Vorfahren am Ende seines Lebens? Von diesem Augenblick an hatte er keine Ruhe mehr; er versuchte verzweifelt, seinen Fall herauszufinden, durchwühlte seine Aufzeichnungen, las von neuem seine Bücher. Und er analysierte sich, beobachtete die geringste seiner Empfindungen, um Anhaltspunkte zu erhalten, die ihm helfen konnten, sich zu beurteilen. An Tagen, da ihm das Denken schwerer fiel und er besondere Visionen zu haben glaubte, neigte er zu der Ansicht, daß die ursprüngliche nervliche Schädigung dominierend sei; wenn er sich hingegen an den Beinen befallen glaubte, wenn seine Füße schmerzten und ihn nicht tragen wollten, bildete er sich ein, unter dem indirekten Einfluß äußerlicher Faktoren zu stehen. Alles geriet durcheinander, er erkannte sich schließlich selber nicht mehr inmitten der eingebildeten Störungen, die seinen aufs äußerste geschwächten Organismus zerrütteten. Und jeden Abend kam er zu demselben Schluß, läutete dieselbe Totenglocke in seinem Schädel: die Vererbung, die furchtbare Vererbung, die Angst, wahnsinnig zu werden.
    In den ersten Januartagen wurde Clotilde ungewollt Zeugin einer Szene, die ihr das Herz abschnürte. Verborgen durch die hohe Rückenlehne ihres Sessels, saß sie lesend an einem Fenster des großen Arbeitszimmers, als sie Pascal hereinkommen sah, der sich am Abend zuvor in sein Zimmer eingeschlossen hatte und seitdem nicht wieder aufgetaucht war. Er hielt mit beiden Händen ein auseinandergefaltetes vergilbtes Blatt Papier, in dem sie den Stammbaum wiedererkannte. Er war so versunken und starrte so gebannt auf das Papier, daß er Clotilde auch nicht bemerkt hätte, wenn sie zu sehen gewesen wäre. Und er breitete den Stammbaum auf dem Tisch aus und betrachtete ihn lange mit schreckerfülltem fragendem Ausdruck, allmählich völlig niedergedrückt, flehend

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