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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Augen, er mußte die Lider schließen, als wäre er von einem Funkenregen bedroht. Der Wein ward ihm zuwider, er aß kaum noch und hatte schlechte Verdauung. Dann wieder wurde diese Teilnahmslosigkeit, diese zunehmende Erschlaffung durch plötzliche Zornesausbrüche unterbrochen, wahnwitzige Anfälle nutzloser Aktivität. Sein Gleichgewicht war dahin, in seiner reizbaren Schwäche fiel er ohne Grund von einem Extrem ins andere. Bei der geringsten Gemütsbewegung füllten sich seine Augen mit Tränen. Oft war er so verzweifelt, daß er sich einschloß und stundenlang schluchzte und weinte, ohne einen unmittelbaren Kummer zu haben, einzig erdrückt von der grenzenlosen Traurigkeit der Dinge.
    Sein Leiden verschlimmerte sich besonders nach einer seiner Reisen nach Marseille, einem jener Junggesellenausflüge, wie er sie zuweilen unternahm. Vielleicht hatte er gehofft, in der Ausschweifung eine gewaltsame Ablenkung, eine Erleichterung zu finden. Er blieb nur zwei Tage und kehrte wie vernichtet heim, zutiefst erniedrigt, mit dem zerquälten Gesicht eines Mannes, der seine Manneskraft eingebüßt hat. Er vermochte sich diese Schande nicht einzugestehen, die Angst war im Rasen seiner Abenteuer zur Gewißheit geworden, und um so größer war jetzt die Scheu des schüchternen Liebhabers. Niemals hatte er dieser Sache Bedeutung beigemessen. Nun war er davon besessen, verstört, außer sich vor Jammer, so daß er gar an Selbstmord dachte. Mochte er sich noch so oft sagen, daß dies zweifellos vorübergehen werde, daß es eine krankhafte Ursache haben müsse: das Gefühl seines Unvermögens bedrückte ihn deshalb nicht weniger, und er verhielt sich den Frauen gegenüber wie die blutjungen Burschen, die vor Verlangen nur stammeln können.
    Etwa in der ersten Dezemberwoche wurde Pascal von unerträglichen Nervenschmerzen befallen. Knackende Geräusche in den Schädelknochen ließen ihn glauben, sein Kopf werde jeden Augenblick zerspringen. Die alte Frau Rougon, die über seinen Zustand unterrichtet worden war, beschloß eines Tages, sich nach dem Befinden ihres Sohnes zu erkundigen. Sie schlich sich in die Küche, da sie erst einmal mit Martine reden wollte. Diese erzählte ihr mit verstörter, tiefbedrückter Miene, daß der Herr Doktor sicherlich wahnsinnig würde; und sie berichtete von seinem sonderbaren Benehmen, daß er ständig in seinem Zimmer hin und her gehe, daß er alle Schubfächer verschlossen halte und bis zwei Uhr morgens Rundgänge durch das ganze Haus unternehme. Sie hatte dabei Tränen in den Augen, und sie wagte schließlich die Meinung zu äußern, dem Herrn Doktor sei vielleicht ein Teufel in den Leib gefahren und man täte gut daran, den Pfarrer von SaintSaturnin zu benachrichtigen.
    »Ein so guter Mensch«, wiederholte sie, »für den man sich in Stücke reißen ließe! Wie schrecklich, daß man ihn nicht in die Kirche kriegen kann, das würde ihn sicherlich sofort gesund machen!«
    In diesem Augenblick kam Clotilde herein, die die Stimme ihrer Großmutter Félicité gehört hatte. Auch sie irrte durch die leeren Räume, hielt sich meistens in dem verlassenen Salon des Erdgeschosses auf. Sie sagte im übrigen kein Wort und hörte nur mit nachdenklicher, erwartungsvoller Miene zu.
    »Ach, du bist es, mein Herzchen! Guten Tag! Martine erzählt mir, Pascal sei ein Teufel in den Leib gefahren. Das ist durchaus auch meine Meinung; nur heißt dieser Teufel eben Hochmut. Er glaubt, er wisse alles, sei Papst und Kaiser zugleich, und wenn man nicht dasselbe sagt wie er, bringt ihn das natürlich hoch.«
    Sie zuckte die Achseln voll grenzenloser Verachtung.
    »Ich würde darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre … Ein Bursche, der rein gar nichts weiß, der nicht gelebt hat, der so dumm gewesen ist, sich immer nur in seine Bücher zu vergraben. Bringt ihn in einen Salon, und er benimmt sich wie ein neugeborenes Kind. Und von Frauen hat er nicht die mindeste Ahnung …«
    Sie vergaß, zu wem sie sprach; daß sie ein junges Mädchen und eine Dienerin vor sich hatte; sie senkte die Stimme und fuhr in vertraulichem Ton fort:
    »Gewiß doch, man muß schon dafür zahlen, daß man allzu brav ist. Weder Frau noch Geliebte noch sonstwas. Das ist ihm schließlich auf den Verstand geschlagen.«
    Clotilde rührte sich nicht. Nur ihre Lider senkten sich langsam über ihre großen, nachdenklichen Augen; dann hob sie sie wieder, verharrte aber in ihrer verschlossenen Haltung und vermochte nichts von dem zu sagen, was in

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