Doktor Pascal - 20
würde also ohne Bedauern von dannen gehen und zusehen, wie er sich in seinem Winkel allein zu Tode quälte! Noch am Abend zuvor hatte sie ihm so viel Leid bereitet, daß er sich gefragt hatte, ob er sich nicht von ihr trennen, sie zu ihrem Bruder schicken sollte, der noch immer nach ihr verlangte. Im ersten Augenblick hatte er sich sogar um ihrer beider Frieden willen zu dieser Trennung entschlossen. Doch wie er sie nun plötzlich mit diesem Mann da stehen sah, wie er hörte, daß sie ihm eine Antwort versprach, und sich vorstellte, daß sie heiraten, daß sie ihn bald verlassen würde, gab es ihm einen Stich ins Herz.
Er ging mit schwerem Schritt auf sie zu; die beiden jungen Leute wandten sich um und waren ein wenig verlegen.
»Wie sich das trifft, Meister, wir sprachen gerade von Ihnen«, sagte Ramond schließlich unbefangen. »Ja, wir schmiedeten ein Komplott, da wir es nun doch gestehen müssen … Sagen Sie, warum schonen Sie sich nicht? Sie haben nichts Ernstes, in vierzehn Tagen würden Sie wieder auf den Beinen sein.«
Pascal, der auf einen Stuhl gesunken war, sah die beiden noch immer an. Er hatte die Kraft, sich zu bezwingen; nichts in seinem Antlitz verriet, welche Wunde er empfangen hatte. Er würde sicher daran sterben, und niemand auf der Welt würde etwas von dem Leiden ahnen, das ihn dahinraffte. Aber es war für ihn eine Erleichterung, daß er böse werden konnte, indem er sich heftig weigerte, auch nur ein Glas Arznei zu schlucken.
»Mich schonen? Wozu? Ist es nicht zu Ende mit meinem alten Gerippe?«
Doch Ramond beharrte mit ruhigem Lächeln auf seiner Meinung.
»Sie sind kräftiger als wir alle. Das ist eine Unpäßlichkeit, und Sie wissen genau, was Sie dagegen tun können … Machen Sie sich doch Injektionen …«
Er konnte nicht weitersprechen, das Maß war voll. Pascal geriet außer sich und fragte, ob er sich wohl umbringen solle, so wie er Lafouasse umgebracht hatte. Seine Einspritzungen! Eine hübsche Erfindung, auf die er stolz sein konnte! Er verneinte die medizinische Wissenschaft und schwor, er wolle keinen Kranken mehr anrühren. Wenn man zu nichts mehr gut sei, müsse man eben krepieren, das sei dann besser für alle. Und das gedenke er im übrigen so schnell wie möglich zu tun.
»Aber, aber!« sagte Ramond, während er sich zum Gehen entschloß, um Pascal nicht noch mehr zu reizen. »Ich lasse Ihnen Clotilde und bin ganz unbesorgt … Clotilde wird das schon in Ordnung bringen.«
Aber Pascal hatte an diesem Morgen den Todesstoß empfangen., Er legte sich noch am selben Abend ins Bett und blieb bis zum nächsten Abend liegen, ohne die Tür seines Zimmers zu öffnen. Schließlich wurde Clotilde unruhig, klopfte heftig mit der Faust an die Tür, aber vergebens: kein Hauch, nichts gab Antwort. Auch Martine kam und flehte durch das Schlüsselloch den Herrn Doktor an, er solle ihr wenigstens sagen, ob er nicht etwas brauche. Totenstille herrschte, das Zimmer schien leer zu sein. Am Morgen des zweiten Tages dann, als das junge Mädchen zufällig den Türknopf drehte, gab die Tür nach; vielleicht war sie seit Stunden nicht mehr verschlossen gewesen. Sie konnte ungehindert den Raum betreten, in den sie noch nie ihren Fuß gesetzt hatte, einen großen Raum, der durch seine Lage nach Norden kalt war und in dem sie nichts anderes erblickte als ein kleines eisernes Bett ohne Vorhänge, eine Duschvorrichtung in einer Ecke, einen langen Tisch aus dunklem Holz, Stühle und auf dem Tisch, auf den Brettern längs der Wände eine ganze Alchimistenküche, Mörser, Kocher, Maschinen, Bestecke. Pascal war auf und saß angekleidet auf seinem Bett, das er sich mit viel Mühe selber gemacht hatte.
»Willst du wirklich nicht, daß ich dich pflege?« fragte sie, bewegt und ängstlich, und wagte nicht, näher zu treten.
Er machte eine matte Bewegung.
»Ach, du kannst ruhig hereinkommen, ich schlage dich schon nicht, ich habe nicht mehr die Kraft dazu.«
Und von jenem Tage an duldete er sie um sich und erlaubte ihr, ihn zu bedienen. Aber er hatte dennoch Launen: von einer krankhaften Scham ergriffen, wollte er nicht, daß sie hereinkam, wenn er im Bett lag; dann mußte sie ihm Martine schicken. Übrigens blieb er selten im Bett; er schleppte sich von einem Stuhl zum anderen, obwohl er zu jeglicher Arbeit unfähig war. Das Leiden hatte sich noch verschlimmert, er verzweifelte schließlich an allem, von Migränen und Übelkeiten gepeinigt, ohne die Kraft, wie er sagte, einen Fuß vor den anderen
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