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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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zu setzen, und jeden Morgen überzeugt, daß er am Abend als Tobsüchtiger in Les Tulettes zu Bett gehen werde. Er magerte ab, er hatte ein Schmerzensantlitz von tragischer Schönheit unter der Flut seines weißen Haares, das er in einer letzten Regung von Eitelkeit weiterhin pflegte. Und wenn er auch zuließ, daß man ihn umsorgte, so wies er doch, da er an der Medizin zweifelte, jegliches Heilmittel heftig zurück.
    Clotilde dachte jetzt nur noch an ihn und löste sich von allem übrigen. Anfangs war sie zur Stillen Messe gegangen, dann hatte sie ihre Kirchgänge ganz aufgegeben. In der ungeduldigen Erwartung einer Gewißheit und des Glücks schien sie Genüge daran zu finden, all ihre Zeit der Sorge um ein teures Wesen zu widmen, das sie gern wieder gütig und froh gesehen hätte. Es war ein Sichaufopfern, ein Vergessen ihrer selbst; ganz unbewußt hatte sie das Verlangen, ihr Glück im Glück des anderen zu finden. In der Krise, die sie durchmachte, die sie zutiefst verwandelte, ohne daß sie darüber nachdachte, folgte sie einzig dem Impuls ihres Frauenherzens. Sie schwieg noch immer über das Zerwürfnis, das sie beide entzweit hatte; sie dachte noch nicht daran, ihm um den Hals zu fallen und ihm zu sagen, daß sie ihm gehöre, daß er wieder leben könne, da sie sich ergab. In ihrem Denken war sie nur eine liebevolle Tochter, die für ihn sorgte, wie auch eine andere Verwandte für ihn gesorgt hätte. Alles war sehr rein, sehr keusch; ihr Leben war so von zarter Fürsorge und ständigen Aufmerksamkeiten erfüllt, daß die Tage jetzt schnell vergingen. Sie war frei von den quälenden Gedanken an das Jenseits, hegte nur den einzigen Wunsch, ihn gesund zu machen.
    Aber einen wirklichen Kampf hatte sie noch auszufechten, als sie Pascal bewegen wollte, sich Spritzen zu geben. Er brauste auf, verleugnete seine Erfindung, nannte sich einen Schwachkopf. Da begann auch Clotilde zu schreien. Jetzt war sie es, die an die Wissenschaft glaubte, die sich entrüstete, wenn sie sah, daß er an seinen Fähigkeiten zweifelte. Lange leistete er Widerstand; dann gab er entkräftet dem Einfluß nach, den sie über ihn gewann, nur um dem freundschaftlichen Streit aus dem Wege zu gehen, den sie jeden Morgen mit ihm anzufangen suchte. Schon nach den ersten Spritzen empfand er große Erleichterung, obgleich er es nicht zugeben wollte. Er hatte wieder einen klaren Kopf, die Kräfte kehrten nach und nach zurück. Und Clotilde triumphierte, empfand an seiner Stelle Stolz, rühmte seine Methode, war empört, daß er sich nicht selber bewunderte als ein Beispiel für die Wunder, die er zu vollbringen vermochte. Er lächelte, er begann in seinem Fall klarzusehen. Ramond hatte die Wahrheit gesprochen; es war sicherlich nichts anderes als eine nervöse Erschöpfung gewesen. Vielleicht würde er trotz allem am Ende davonkommen.
    »Ja, du bist es, die mich gesund macht, kleines Mädchen«, sagte er, ohne seine Hoffnung eingestehen zu wollen. »Bei den Arzneien, siehst du, kommt es auf die Hand an, die sie verabreicht.«
    Die Genesung zog sich hin, dauerte den ganzen Februar. Das Wetter blieb klar und kalt; es verging kein Tag, an dem die Sonne nicht mit ihrer Flut blasser Strahlen das große Arbeitszimmer erwärmte. Dennoch gab es Rückfälle in düstere Schwermut, Stunden, da der Kranke wieder in seine Ängste verfiel, während seine Pflegerin untröstlich war und sich am anderen Ende des Zimmers niederlassen mußte, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Von neuem verlor er die Hoffnung auf Heilung. Er wurde bitter und war von aggressiver Ironie.
    An einem solchen schlechten Tag erblickte Pascal, als er ans Fenster trat, seinen Nachbarn, Herrn Bellombre, den pensionierten Lehrer, der seinen Rundgang durch den Garten machte, um nachzusehen, ob die Bäume viele Blütenknospen hätten. Der Anblick dieses korrekten, rechtschaffenen Greises, der in seiner schönen egoistischen Ruhe anscheinend nie krank gewesen war, brachte ihn plötzlich auf.
    »Ach!« grollte er. »Das ist so einer, der sich niemals überanstrengt, niemals seine Haut riskiert und sich nie vor Kummer aufreibt!«
    Und nun legte er los, begann eine ironische Lobrede auf den Egoismus. Ganz allein auf der Welt sein, keinen Freund haben, keine Frau, kein Kind, welche Glückseligkeit! Dieser hartherzige Geizhals, der vierzig Jahre lang nichts anderes zu tun hatte, als die Kinder fremder Leute zu ohrfeigen, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, ohne Hund, nur mit einem stummen und

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