Doktor Pascal - 20
Einsamkeit zufrieden, gepflegt von der Rebellin, der Feindin von gestern, der demütigen Schülerin von heute. Oft herrschte langes Schweigen zwischen ihnen, ohne daß sie dadurch befangen wurden. Sie waren in Gedanken versunken, in Träume von unendlicher Süßigkeit.
Eines Tages jedoch erschien Pascal sehr ernst. Er war jetzt zu der Überzeugung gelangt, daß sein Leiden rein zufälliger Natur war und daß das Vererbungsproblem dabei keine Rolle spielte. Er war deshalb nicht weniger von Demut erfüllt.
»Mein Gott!« murmelte er. »Was sind wir doch wenig! Ich, der ich mich für so kräftig hielt, der ich so stolz war auf meinen gesunden Verstand! Und doch hätten mich ein wenig Kummer und ein wenig Anstrengung beinahe wahnsinnig gemacht!«
Er schwieg und dachte weiter nach. Seine Augen bekamen Glanz, er rang sich endlich durch. Und in einem Augenblick der Weisheit und des Mutes sagte er:
»Wenn es mir wieder besser geht, so freut mich das besonders um deinetwillen.«
Clotilde begriff nicht und blickte auf.
»Wieso?«
»Wegen deiner Heirat natürlich … Jetzt können wir einen Termin festsetzen.«
Sie war überrascht.
»Ach ja, meine Heirat!«
»Wollen wir gleich heute die zweite Juniwoche wählen?«
»Ja, die zweite Juniwoche, das paßt sehr gut.« Sie verstummten beide. Clotilde hatte die Augen wieder auf ihre Näharbeit gesenkt, während er, den Blick in die Ferne gerichtet, mit ernstem Gesicht reglos dasaß.
Kapitel VII
Als die alte Frau Rougon an jenem Tage auf die Souleiade kam, war Martine im Gemüsegarten gerade dabei, Lauch zu pflanzen; Frau Rougon nahm die Gelegenheit wahr und ging, bevor sie das Haus betrat, auf Martine zu, um mit ihr zu reden und sie auszuhorchen.
Die Zeit verstrich, und Frau Rougon war untröstlich über Clotildes »Abtrünnigkeit«, wie sie es nannte. Sie fühlte genau, daß sie nicht mehr auf das junge Mädchen zählen konnte, um die Akten zu bekommen. Die Kleine stürzte sich ins Verderben und näherte sich wieder Pascal, seit sie ihn gepflegt hatte; sie war sogar so verdorben, daß sie nicht mehr zur Kirche ging. Daher verfiel Frau Rougon wieder auf ihren ursprünglichen Gedanken, Clotilde zu entfernen und dann Pascal für sich zu gewinnen, wenn er allein und durch die Einsamkeit geschwächt sein würde. Da sie Clotilde nicht hatte bewegen können, ihrem Bruder zu folgen, setzte sie sich leidenschaftlich für die Heirat ein; sie hätte Clotilde am liebsten schon am nächsten Tag dem Doktor Ramond an den Hals geworfen und war unzufrieden über die ständigen Verzögerungen. An jenem Nachmittag erschien sie mit dem fieberhaften Verlangen, die Dinge zu beschleunigen.
»Guten Tag, Martine … Wie geht˜s denn hier?«
Die Magd, die auf den Knien lag, die Hände voll Erde, hob ihr blasses Gesicht, das sie durch ein über ihre Haube gebundenes Tuch vor der Sonne schützte.
»Wie immer, Madame, immer so weiter.«
Und sie plauderten. Félicité behandelte Martine als Vertraute, als ergebene Magd, die jetzt ganz zur Familie gehörte und der man alles sagen konnte. Sie begann sie auszufragen, wollte wissen, ob nicht Doktor Ramond am Morgen dagewesen sei. Er war dagewesen, doch sicher hatte man nur über belanglose Dinge gesprochen. Nun war sie verzweifelt, denn sie hatte den Doktor am Abend zuvor gesehen, und er hatte sich ihr anvertraut, bekümmert darüber, daß er keine endgültige Antwort bekam; es war ihm jetzt sehr daran gelegen, wenigstens Clotildes Wort zu erhalten. Das konnte so nicht weitergehen, man mußte das junge Mädchen zwingen, ihr Jawort zu geben.
»Er ist zu rücksichtsvoll«, rief sie. »Ich hatte es ihm gesagt, ich wußte genau, daß er auch heute nicht wagen würde, sie zu einer Erklärung zu zwingen … Aber jetzt werde ich die Sache in die Hand nehmen. Wir wollen doch sehen, ob ich diese Kleine nicht dazu bringe, einen Entschluß zu fassen.«
Dann fuhr sie ruhiger fort:
»Mein Sohn ist jetzt wieder auf den Beinen, da braucht er sie nicht.«
Martine, die sich wieder gebückt hatte und weiter ihren Lauch pflanzte, richtete sich lebhaft auf.
»Oh, ganz bestimmt nicht!«
Und auf ihrem von dreißig Dienstjahren gezeichneten Gesicht entzündete sich ein freudiger Schimmer. Denn seit ihr Herr sie kaum noch an seiner Seite duldete, blutete eine Wunde in ihr. Während seiner ganzen Krankheit hatte er sie von sich ferngehalten, hatte immer seltener ihre Dienste angenommen und schließlich die Tür seines Zimmers vor ihr verschlossen. Ihr war unklar
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