Doktor Pascal - 20
Spaziergängen ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge zulächelte.
Da sagte sie nur mit ruhiger Gewißheit:
»Es wird schon kommen!«
Dies war für sie die natürliche und unabdingbare Folge des Liebesaktes. Am Ende all ihrer Umarmungen stand der Gedanke an das Kind; denn jede Liebe, die nicht das Kind zum Ziel hatte, schien ihr sinnlos und gemein.
Dies war sogar einer der Gründe, weshalb sie sich nicht für Romane interessierte. Sie war keine so eifrige Leserin wie ihre Mutter, der Flug ihrer Phantasie genügte ihr, sie langweilte sich immer bei erfundenen Geschichten. Vor allem aber war sie immer wieder erstaunt und entrüstet, daß man in den Liebesromanen niemals an das Kind dachte. Es war darin nicht einmal vorgesehen, und wenn es zufällig mitten in einem Liebesabenteuer auftauchte, so war es eine Katastrophe und rief Entsetzen und größte Verlegenheit hervor. Niemals schienen die Liebenden, wenn sie sich einander hingaben, auch nur zu ahnen, daß sie Leben zeugten und daß ein Kind entstehen konnte. Indessen hatten die naturwissenschaftlichen Studien Clotilde gezeigt, daß die Frucht das einzige Anliegen der Natur war. Sie allein war wichtig, sie allein war das Ziel, alle Vorsichtsmaßnahmen waren getroffen, damit der Same nicht verlorenging und das Muttertier Kinder bekam. Und im Gegensatz dazu hatte der Mensch, indem er die Liebe kultivierte und verfeinerte, selbst den Gedanken an die Frucht verdrängt. In den Romanen von Rang war die Geschlechtlichkeit der Helden nur noch eine Maschine der Leidenschaft. Sie beteten sich an, liebten sich, ließen wieder voneinander, erlitten tausend Tode, umarmten sich, töteten sich, entfesselten einen Sturm von sozialen Übeln, und alles nur um des Vergnügens willen, außerhalb der Naturgesetze, scheinbar ohne daran zu denken, daß die Liebe Kinder zeugte. Wie schmutzig und dumm!
Clotilde wurde fröhlich und wiederholte an seinem Halse mit der reizenden, ein wenig verlegenen Kühnheit einer liebenden Frau:
»Es wird schon kommen … Da wir alles tun, was nötig ist, warum sollte es da nicht kommen?«
Er antwortete nicht gleich. Sie fühlte, wie er in ihren Armen vor Kälte erschauerte, wie ihn Bedauern und Zweifel überfielen. Dann murmelte er traurig:
»Nein, nein! Es ist zu spät … Denk an mein Alter, Liebling!«
»Aber du bist doch noch jung!« rief sie in leidenschaftlicher Aufwallung, schloß ihn wärmend in ihre Arme und bedeckte ihn mit Küssen.
Sie mußten beide lachen. Und in dieser Umarmung schliefen sie ein; Pascal lag auf dem Rücken und drückte sie mit seinem linken Arm an sich, während Clotilde ihn mit ihren schlanken, biegsamen Gliedern fest umschlungen hielt, den Kopf auf seiner Brust, das blonde Haar mit seinem weißen Bart verflochten. Das Mädchen aus Sunam schlummerte, die Wange auf dem Herzen ihres Königs. Und in der tiefen Stille, in dem ganz dunklen, ihrer Liebe so zärtlich gesonnenen großen Zimmer vernahm man nur noch ihren sanften Atem.
Kapitel IX
Doktor Pascal machte also weiter seine Arztbesuche in der Stadt und auf den umliegenden Dörfern. Und fast immer hatte er Clotilde am Arm, die ihn zu den armen Leuten begleitete.
Aber wie er ihr eines Nachts ganz leise eingestand, unternahm er diese Gänge nur noch, um den Kranken Erleichterung und Trost zu bringen. Schon früher hatte er den Arztberuf nur mit Widerwillen ausgeübt, weil er fühlte, wie nichtig die ganze Behandlung war. Der Empirismus brachte ihn zur Verzweiflung. Da die Medizin nun einmal keine experimentelle Wissenschaft war, sondern eine Kunst, war er unsicher angesichts der grenzenlosen Kompliziertheit, die Krankheit und das richtige Heilmittel bei dem jeweiligen Kranken herauszufinden. Die Heilverfahren änderten sich mit den Hypothesen: wie viele Menschen mochten wohl früher durch die Methoden ums Leben gekommen sein, von denen man heute bereits abgekommen war! Der Spürsinn des Arztes war alles, der Heilende war nur noch ein glückbegabter Wahrsager, der selber im finstern tappte und seine Heilerfolge den zufälligen Eingebungen seines Geistes verdankte. Und daraus erklärte sich, warum Pascal nach zwölf Jahren Praxis seine Patienten beinahe ganz aufgegeben hatte, um sich ausschließlich ins Studium zu stürzen. Als dann seine großen Arbeiten über die Vererbung ihn einen Augenblick wieder hatten hoffen lassen, daß er eingreifen, daß er mit seinen subkutanen Injektionen heilen könnte, hatte er sich von neuem begeistert. Doch inzwischen war sein
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