Doktor Proktors Zeitbadewanne
Lise. »Anna aus Inavel. Gustave Eiffel. Und von Juliette natürlich.«
»Juliette«, flüsterte der Professor tränenerstickt und schloss die Augen. »Ich habe Juliette im Stich gelassen...«
Auch Lise stiegen die Tränen in die Augen. Und vielleicht sah sie darum, was sie sah, als sie über die Menschenmenge blickte und in der zweiten Reihe die Raspa erspähte. Hatte die nicht wahrhaftig ebenfalls Tränen in den Augen?
»Gebt mir ein C!«
»Zeeeh!«
Lise hörte, wie hinter ihr Blutbrunn verlegen die beiden Wachen fragte:
»Kommt in ›Zack‹ jetzt noch ein C oder ein K?«
»Ich weiß nicht so recht. Zwei C sieht vielleicht ein bisschen komisch aus«, flüsterte der Schnurrbart.
»Ich glaube, es sind jedenfalls zwei«, sagte der Schnauzbart.
Lise zwinkerte eine Träne beiseite. So sah also das Ende aus. Die Sonne schien, es duftete nach Jasmin und frisch gebackenem Brot, sie hörte die Vögel singen und in der Ferne die Schweine grunzen. Neue Tränen füllten ihre Augen. Sollte sie ihre Mutter und ihren Vater und Bulle tatsächlich nie mehr wiedersehen? Sie zwinkerte noch zweimal. Etwas tanzte über den Köpfen der Leute dorthinten, ein Schmetterling vielleicht.
»Gebt mir noch ein halbes C!«, brüllte Blutbrunn.
»Zeh!«
Ein blauer Schmetterling. Mit weißen Hosen. Und einem quer sitzenden dreizackigen Hut. Und er flog auf sie zu.
»Und was ergibt das?«, brüllte Blutbrunn.
»ZACK!«
»Hab ich das gehört?«
»ZACK!«
Der Schmetterling wurde größer. Er wurde deutlicher. Jetzt sah Lise, dass er nicht flog, sondern über die Zuschauer hinwegsprang, von Kopf zu Kopf. Und er hatte... hatte er tatsächlich Sommersprossen?
»Was kommt jetzt?«, brüllte Blutbrunn.
»ZACK!«
Das war...das konnte nicht sein... aber es war... DAS WAR BULLE!
Wie wunderbar! Und wie schrecklich! Denn es war zu spät. Lise hatte gehört, wie Blutbrunn an der Reißleine zog, und sowohl Vogelgesang als auch Schweinegrunzen waren verstummt. Nichts war mehr zu hören als das Zischen des herabsausenden Fallbeils.
16 . Kapite l
Hals über Kopf
in Ton sang in der Luft, und zwar der Ton eines frisch geschliffenen Fallbeils, das auf die Hälse von Lise und Doktor Proktor zusauste. Gleich würde es ihre Köpfe vom Körper trennen und die Geschichte würde umgeschrieben.
Niemals würde eine Lise in dem roten Haus in der Kanonenstraße wohnen und auf keinen Fall ein Doktor Proktor in dem blauen. Weder Pupspulver noch Pupsonautenpulver noch Franzosennasenklemmen würden je erfunden. Und die Zeitbadewanne wäre eine Erfindung von jemand anderen, nämlich der ziemlich bösen Assistentin Raspa. Zwar eilte Bulle ihnen gerade zu Hilfe, aber Blutbrunn hatte die Reißleine gezogen, es war zu spät. Mit anderen Worten: Die Zukunftsaussichten waren einigermaßen finster. Lise schloss die Augen. Dann war das Fallbeil da und sein Zischen verstummte mit einem lauten »Bing!«. Lise war tot. Natürlich war sie tot, man hatte sie geköpft, und darum war alles still. Zwar war es etwas merkwürdig, dass das Fallbeil mit einem »Bing!« zum Stehen gekommen war statt mit einem »Zack!«, aber was soll’s. Andererseits war es auch verwunderlich, dass sie – kopflos, wie sie jetzt war – überhaupt etwas hören konnte. Oder all das jetzt dachte. Zögernd schlug Lise die Augen auf, halb in der Erwartung, das Innere des Flechtkorbs zu sehen und über sich ihren kopflosen Hals. Stattdessen aber blickte sie über die Menschenmenge hinweg, die sie und den Professor mit offenen Mündern und ungläubigen Blicken anstarrte.
Dann hörte sie eine vertraute Stimme:
»Bürger von Paris! Der Tag der Freiheit ist da! So, wie mein Säbel diese beiden unschuldigen Kinder der Revolution gerettet hat, wird er heute euch alle erretten, ja, euch ALLE, von Tyrannei, Ausbeutung, Korrosion und anderem Mist!«
Lise drehte den Kopf. Haarscharf über ihrem und des Professors Hals sah sie die Spitze eines Säbels in der Guillotine stecken. Im allerletzten Bruchteil einer Sekunde, bevor sie beide kopflos gemacht worden wären oder körperlos, je nachdem, wie herum man es betrachtete, hatte er das Fallbeil blockiert. Neben sich hörte sie den Professor leise stöhnen: »Lise?«
»Ja, hier«, flüsterte Lise und ließ den Blick am Säbel entlanggleiten, über den Griff hinaus, einen Arm hinauf bis zu dem kleinen Knirps in blauer Uniform, der, mit der freien Hand wild gestikulierend, seine Volksrede hielt:
»Ich gelobe, alle möglichen Steuern und Abgaben auf Tabak,
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